Die Heimat, die sie meinen

Vom Irak zum Kosovo, vom Flüchtling zum Vertriebenen: Wie Migrationseindämmung zum Kriegszweck wird

Die Forderung, "Fluchtursachen" anstelle der Flüchtlinge zu bekämpfen, ist längst vom entwicklungspolitischen Solidaritätsjargon zum außenpolitischen Regierungsprogramm avanciert. Erklärtes humanitäres wie militärisches Ziel ist es, den betroffenen Menschen als "Ethnien" oder "Völkern" menschenrechtliche Standards in ihrer "Heimat" zu schaffen und sie so möglichst in der Region zu halten. Dabei bildet die veränderte Flüchtlingspolitik eine praktische Vorlage fast aller militärischen Interventionen der vergangenen Jahre.

Fluchtverhindernde und "friedenssichernde" Maßnahmen fallen seither in den Aufgabenbereich der Außen- und Verteidigungsministerien, flankierende Hilfsprogramme werden beispielsweise in Europa über die 1991 eingerichtete Europäische Kommission für humanitäre Organisationen (ECHO) koordiniert, die neben den Regierungen der wichtigste Geldgeber europäischer Nicht-Regierungs-Organisationen (NGO) ist.

Die NGO, aus deren Programmen die Fluchtursachenbekämpfung ursprünglich stammt, liefern nun auch die Handlunsganweisungen für die vordem auf Panzerschlachten getrimmte Bundeswehr in "humanitären Einsätzen".

Als supranationaler Überbau reflektierte auch die UN den Wandel: Das traditionelle Asylrecht drückte sich programmatisch in der Tätigkeit des UN-Flüchtlingskommissariats UNHCR aus, dessen Mandat sich ausschließlich auf grenzüberschreitende Flüchtlinge beschränkte, deren Aufnahme und Integration in Drittländern organisiert werden mußte.

1992 reformulierte das UNHCR, das bisher jede Intervention in den Herkunftsländern qua Statut ausgeschlossen hatte, sein Programm und verstand sich fortan auch als "humanitärer Arm friedenserzwingender Maßnahmen". Zeitgleich deklarierte es ein - vorher unbekanntes - "Recht auf Heimat", das als "right to remain" die Ablösung des Asyls durch "heimatnahe Fluchtverhinderung" paraphrasierte.

Gewandelt haben sich nicht nur die Begriffe: In den vergangenen Wochen einigten sich Medien, politisches Personal und Hilfsorganisationen im Falle der Kosovo-Albaner darauf, erst gar nicht mehr von Flüchtlingen, sondern von "Vertriebenen" und "Deportierten" zu sprechen. Jenseits der spezifisch deutschen Implikationen tragen sie der Tatsache Rechnung, daß die Kosovo-Albaner in Mazedonien oder Albanien mit Flüchtlingen im Sinne traditioneller Asylpolitik nichts mehr zu tun haben.

Begonnen hat dieses Zusammenspiel von Außenpolitik, Militärs und humanitärer Hilfe mit den Hilfsaktionen für die irakischen Kurden nach dem Golfkrieg als Unfall, nicht als Strategie: als in Folge des Golfkrieges zwei Millionen Kurden in die Türkei und den Iran flohen. Beide Staaten weigerten sich, aus Angst vor einer weiteren Unterminierung der Staatsmacht in ihren kurdischen Provinzen, irakische Kurden aufzunehmen.

Um eine Eskalation zu verhindern, richteten die Staaten der Anti-Irak-Koalition im April 1991 eine "Schutzzone" für kurdische Flüchtlinge auf irakischem Territorium ein, die ausschließlich der Rückführung der Flüchtlinge dienen sollte. Denn unangefochten galt noch im zweiten Golfkrieg die Prämisse der Souveränität des Nationalstaates: Während die UN die Flüchtlingshilfe auf irakischem Territorium von der Zustimmung der irakischen Regierung abhängig machten, betonte für die

EG Jacques Santer, daß diese mit den Schutzzonen keine "rechtlichen Enklaven" gemeint habe.

Bis Mitte 1991 zog die irakische Zentralregierung aus großen Teilen des Nordens ihre Truppen ab, so daß sie zwar die Kontrolle über den kurdischen Nordirak vorübergehend verlor, nicht aber den Rechtsanspruch auf die Region. Der damalige US-Militärsprecher Don Kirchoffner stellte klar: "Unsere Absicht war es, nicht weiter als unbedingt nötig nach Süden oder Osten vorzudringen, um die Leute aus den Bergen wieder nach Hause zu bekommen."

Faktisch hatte man zur Flüchtlingsabwehr dennoch eine teilweise autonome Region geschaffen, deren Vorzüge mit der schwindenden Hoffnung, die Hussein-Regierung in absehbarer Zeit wenigstens personell zu ersetzen, immer deutlicher zutage traten.

Die irakisch-kurdische Region entwickelte sich zum Auffanglager irakischer, iranischer und türkischer Flüchtlinge und ihre Funktion reicht seitdem durch die Konstruktion einer "innerirakischen Fluchtalternative" weit über die Abwehr irakisch-kurdischer Flüchtlinge hinaus. Die "heimatnahe Flüchtlingsabwehr" hat zugleich einen strategisch und militärisch bedeutsamen Status quo geschaffen: So wurde die Region zum Austragungsort türkischer und iranischer Militäroperationen gegen die kurdische Opposition außerhalb des eigenen Staatsgebietes, während die Drohung, die kurdische Region anzuerkennen, als Mittel zur Destabilisierung des irakischen Regimes eingesetzt wurde.

Die Verschiebung der Flüchtlingspolitik, von der Gewährleistung sicheren Schutzes - im Ausland - vor Verfolgung und Krieg im Herkunftsstaat zur materiellen Hilfeleistung für Opfer - inmitten des andauernden Krieges -, antizipierte den Wandel westlicher Außenpolitik, die sich fortan nicht mehr an souveränen Staaten orientierte, deren Regierungen man wegputschen oder einkaufen mußte.

1996 legte das Massachusetts Institute of Technology (MIT) einen programmatischen Entwurf für die Umorientierung der US-Außenpolitik vor, der das Festhalten an der territorialen Integrität als verheerenden Fehler und "schlimmsten Konservatismus" kritisierte. Der Entwurf, der für den Irak eine "ethnische" Teilung fordert, geht davon aus, daß die Ziele der US-Politik im Nahen Osten nur über das "Selbstbestimmungsrecht der Völker" zu erreichen seien.

Begonnen als reine Flüchtlingsabwehrmaßnahme, hatte sich die "Schutzzone" als interessantes geopolitisches Instrumentarium entpuppt. Die Logik der heimatnahen Flüchtlingsabwehr hatte zudem den Vorzug, auch von Betroffenen begrüßt zu werden: "Wir wollen vermeiden, daß Kurden als Flüchtlinge nach Deutschland kommen", erklärte etwa ein Sprecher der kurdischen Organisation Komkar und rechtfertigte die "humanitäre Intervention" mit der Begründung, daß die Kurden "nicht vor deutschen Sozialämtern betteln und in der Bundesrepublik neue Probleme schaffen" wollten.

1991 noch hatte die Anti-Irak Koalition sich über die völkerrechtliche Integrität und Souveränität eines Staates mit dem Ziel der Flüchtlingsbekämpfung hinweggesetzt. Im Kosovo nun haben die militärischen "fluchtverhindernden Maßnahmen" ihren ursprünglichen Gegenstand vollständig absorbiert: Mit der Auslösung einer Massenflucht und der Zuspitzung des inner-jugoslawischen Konfliktes wurde die Legitimation dafür geschaffen, sich über die Integrität des jugoslawischen Staates hinwegzusetzen.

Die Flüchtlinge können das anfangs propagierte Ziel, die "Vertreibungen" zu verhindern und damit die Fluchtursachen zu bekämpfen, nicht rechtfertigen - sie selbst sind der lebende Gegenbeweis. Die Kosovo-Albaner fliehen nun, um irgendwann mit Hilfe der Nato in eine "befreite Heimat" zurückzukehren.

Damit verhalten sie sich nicht anders, als es die dem Nato-Einsatz zugrunde liegende Logik verlangt, und der Begriff der "Vertriebenen", der die Kosovo-Flüchtlinge schon sprachlich auf ihre "Heimat" festschreibt, vorgibt: Sie nehmen sich selbst nicht mehr als Flüchtlinge wahr, die sich in Frankfurt oder Stockholm ein besseres Leben erhoffen dürfen, sondern als vorübergehend abgetrennter Teil eines quasi organischen Ganzen, des "Kosovo". Als "Vertriebene" aber werden sie nur so lange geduldet, wie sie nach einer Rückkehr in ihre "angestammte Heimat" trachten und nicht nach Europa oder in die USA fliehen.