Globale Dämonen

Russischer Monumentalschinken mit deutscher Mentalität und italienischem Design. Frank Castorf inszeniert Dostojewski

Gehört das schon zum Stück? Vor dem Portal der Volksbühne ergießt ein Reisebus Marke "Der Moabiter" eine kreuzfidele Kaffeefahrtbelegschaft in Blüm-chenkleid-Uniform in den lauschigen Frühsommerabend. Sehen so die bösen Geister der Vergangenheit aus? Und was werden sie mit ihren nachgerüsteten Heizdecken und Bügeleisen anrichten? Unsinn: Christoph Schlingensief, dem man derlei Regieeinfälle ohne weiteres zutraute, ist ja gar nicht im Lande, sondern als menschliches Schutzschild in Sachen Kosovo unterwegs.

Wie war das noch gleich? Weil die Flüchtlinge nicht in die Volksbühne kommen durften, um an einer seiner unbefristeten Reality-Soaps teilzunehmen, ist Schlingensief kurzerhand zu ihnen gefahren und bleibt dort, schätzungsweise, bis Gras über seine letzte gefloppte Inszenierung gewachsen ist. Egal, schließlich steht ja Frank Castorf auf dem Programm, der, wie zu lesen war, endlich seriös geworden ist: Nie wieder Szene-Theater wie das "Terrordrom"!

Jetzt heißt es auf Vorrat rauchen und sich innerlich auf viereinhalb Stunden veritables Spätwerk gefaßt machen, dieweil die Seniorinnen mit ihrem neuen Kriegsgerät den Heimweg antreten.

Eigenheimhölle auch auf der Bühne: ein Bungalow aus beiger Hartpappe imitiert im Originalmaßstab einen Plattenbau, der irgendwo in der russischen Pampa stehen könnte und erinnert auf den ersten Blick mehr an Domäne-Baumarkt denn an eine Kulisse für Fjodor Dostojewskis "Dämonen". Während der Aufführung wird sich dieser Bungalow mehrmals um seine Achse drehen, rundum Einblicke in sein angestaubtes Designer-Interieur gewähren und auch den Blick auf den dahintergelegenen Pool mit Waschbetonplatten freigeben, bis er schließlich explodiert. Zusammen mit den Kostümen - anachronistische Cocktailkleidchen bei den Frauen, breite Schlipse und steife Anzüge bei den Männern - entspricht das der westlichen Seventies-Atmo.

Oder waren die russischen Siebziger des 19. Jahrhunderts so wie unsere Siebziger? Oder sieht so etwa das heutige Rußland aus? Mit anderen Worten: Wir wissen nicht genau, wo wir sind, und die Schauspieler wissen es auch nicht. Später wird einer von ihnen, aus der Rolle fallend, äußern: "Globalisierung - macht sie sich nicht daran bemerkbar, daß ich mich in einem russischen Monumentalschinken der sechziger Jahre mit deutscher Mentalität und italienischem Design zu befinden glaube?"

Prägnanter könnte man auch das Stück wohl kaum zusammenfassen. Aber was ist denn eigentlich los? Los ist, zumindest in Dostojewskis über tausendseitiger Vorlage, die eigentlich "Der Nihilist" heißen sollte, eine ganze Menge: Ein gutes Dutzend Hauptpersonen konspiriert und kopuliert sich durch das vorrevolutionäre Rußland und verhandelt die großen Staatstheorien und Philosophien der Zeit: Nationalismus vs. Anarchismus, Nihilismus vs. Christentum. Gott ist zwar noch nicht ganz tot, aber schon nicht mehr so gut beieinander, und die Frage "Sind Sie gläubig?" wird nur noch mit der ungläubigen Gegenfrage "Ein Scherz ˆ la mode?" quittiert.

Während die Älteren am Rande des Abgrunds verzweifelt bei "Vaterunser" oder Mütterchen Rußland Unterschlupf suchen, sind die Jüngeren bereits einen Schritt weiter. Für sie stellt sich nur noch die Frage: Revolution oder Selbstmord? Ursprünglich als lehrstückhaftes Pamphlet gegen den Nihilismus gedacht, beschäftigten Dostojewski die in den Sechzigern des vorigen Jahrhunderts in Rußland aufkommenden anarchistischen Splittergrüppchen doch zu sehr, als daß er auf sie verzichten wollte. Dabei hätten ihn die spürbar ambivalente Faszination, die Kontakte zu Bakunin und anderen Anarchisten beinahe selbst Kopf und Kragen gekostet.

Albert Camus hat den Stoff aufgegriffen und zum absurden Theaterstück "Die Besessenen" verarbeitet. Castorf nun hat die etwas bleierne Camus-Vorlage genommen und sie an den passenden Stellen mit Original-Dostojewski zu neuerlicher epischer Breite angereichert. Das Ganze spielt sich ab als endlos ausgedehnte Partygesellschaft, die zwischen überreizter Langeweile und Aktionismus oszilliert.

Im Zentrum steht die Figur des Nikolai Stawrogin, werwolfgleich gespielt von Martin Wuttke, der auf Heilsprediger aller Art eine ähnliche Anziehung ausübt wie auf Frauen. Er provoziert alle, die mit ihm in Berührung geraten, ihre jeweiligen politischen oder sexuellen Obsessionen auf ihn zu projizieren. Er selbst ist mehr Desillusionist als Nihilist, denn auch der Glaube an das Nichts setzt ein gewisses Quantum Metaphysik voraus. Als er einmal tatsächlich Gespenster zu sehen glaubt, entpuppen sich diese als fleischiger Riesenkaktus, der aus seinem Waschbetonkübel gekippt ist. Bei aller Verstrickung in den Anarchismus ist er auch mehr Situationist als Terrorist, denn zwischen Selbstmord und Revolution gibt es ja immer noch den Amoklauf. Aber auch der erstickt im dostojewskischen Palaver. Alle reden und rauchen, rauchen und reden, als ob es kein Morgen gäbe.

Nachdem im ersten Teil die Verwandtschafts- und Sexualverhältnisse einigermaßen geklärt worden sind, eine Hochzeit anberaumt und wieder abgeblasen wurde, wird nach der Pause mit dem eingeführten Menschen- und Ideenmaterial experimentiert - alles eine Frage der Kombinatorik. Manche Mischungen erweisen sich als explosiv, und es kommt zu Handgreiflichkeiten. Wie bei einer echten Party müssen alle mal in den Pool fallen und ansonsten sich selbst spielen, was der ersten Riege der Castorf-Schauspieler bekanntlich nicht schwerfällt.

Sophie Rois darf als hysterische Lisa schrill herumkieksen, Henry Hübchen alias Stepan Trofimowitsch als derangierter Schriftsteller ohne Werk eine Slapstick-Nummer mit Klappstuhl geben, wie man sie schon in Castorfs Fellini-Adaption "Stadt der Frauen" gesehen hat. Merkwürdigerweise wird das nie unangenehm langweilig, wie auch die originalen Dostojewski-Dialoge, an die sich das Stück weitgehend hält, einen Zustand gepflegter Langeweile und grober Behaglichkeit hervorrufen.

Während sich Milan Peschel als intriganter Anarchist Pjotr Stepanowitsch gegen Ende schon mal daran macht, die nähere Umgebung in Schutt und Asche zu legen, ist Ulrich Voß als spleeniger Schigaljow mit seinen abstrakt-theoretischen Überlegungen zum idealen Staatswesen längst bei der kambodschanischen Variante des Kommunismus angelangt. Sein eigenwilliges Credo lautet: Hundert-Millionen Leute umbringen, den Rest im Verhältnis neun zu eins aufteilen, den größeren Teil von Bildung fernhalten und versklaven, um dem andere Zehntel optimale Freiheit zu garantieren.

Mag sein, daß Dostojewski alles schon immer gewußt hat, daß er nicht nur den bevorstehenden Tod Gottes, sondern auch das Scheitern des realen Kommunismus vorausgeahnt hat. Durchaus zutreffend, daß er, obwohl er an Nationalismus und Religion festhielt, eine Ahnung von deren innerer Verkommenheit besessen haben muß. Das Stück ist so aktuell wie die Aporien der Moderne und ähnlich facettenreich. Mit Serbien hat es aber nur sehr bedingt etwas zu tun - etwa soviel wie mit der gesetzlichen Neuregelung zur Scheinselbständigkeit (weshalb sich dankenswerterweise im Programmheft ein sachkundiger, ansonsten nicht näher motivierter Überblick zum Thema findet).

Daß dennoch alle Besprechungen, die nach der Erstaufführung im Rahmen der Wiener Festwochen zu lesen waren, auf die Aktualität des Stückes abheben, läßt sich nur nach dem bekannten psychologischen Phänomen erklären, daß, wer einen Hammer hat, auch überall Nägel sieht. Natürlich drängt sich auch diese Lesart auf, wenn am Schluß Düsenjäger über die Szenerie donnern und Castorf im Pressetext feststellt, das Nato-Bombardement sei "der Beginn des Kampfes an der russischen Westgrenze" und wenn außerdem dem Programmheft eigens und eilends ein Supplement mit Texten zur aktuellen Situation beigefügt ist. Dennoch sollte der Spruch auf der Rückseite "Objects in mirror are closer than they appear" nicht zu vorschnellen Verkürzungen verleiten.

Zweifellos hat das Stück eine großartige Aktualität, die sich indes gegen allzu vordergründige und eindeutige Aktualisierungen sträubt. Sie liegt eher in der eindringlich inszenierten Fin-de-siècle-Langeweile, wo dann auf einmal auch der Fernseher ins Bild paßt, im Pluralismus der Ideen und der "neuen Unübersichtlichkeit". Gegen das eitle Streben nach Transzendenz jedweder Couleur erscheint die von Nikolai propagierte Idee vom "ironischen Leben" zeitgemäßer denn je.

Was den Theatermacher Frank Castorf anbelangt, so trifft für ihn zu, was Dostojewski in den "Dämonen" über den greisen Mönch Tichon schreibt: "Er dachte nach und wußte natürlich nicht, worüber." Und das ist im Zweifel besser, als eine eineindeutig decodierbare Goodwill-Inszenierung, die sich an einen aktuellen Anlaß anflanscht. Unter der Hand ist Castorf so durchaus eine neue, konzentrierte Regiesprache gelungen, die ihre cineastische Entsprechung in den Filmen des Dogma 95 hat.

Die Assoziation mit Thomas Vinterbergs "Das Fest" oder fast mehr noch mit Lars von Triers "Idioten" ist tatsächlich nicht zufällig. Auch wenn sich die im Manifest festgelegten Standards für einen neuen filmischen Realismus nur sehr bedingt für das Theater eignen, merkt man die programmatische Nähe deutlich. Das hat zum einen mit dem Sujet zu tun; hier wie dort gilt das vorrangige Erkenntnisinteresse abgeschotteten gruppendynamischen Prozessen.

Zum anderen hat es mit der Bühnentechnik zu tun: Die Drehung der Bühne läßt sich je nach Inertialsystem auch als 360 Grad-Kamerafahrt interpretieren. So wird ein Mikrokosmos durchleuchtet, der nicht nur eine gewisse Ähnlichkeit mit der Jetztzeit aufweist. Die dazugehörige Warnung muß lauten: Objects on stage are closer than they appear.

Fjodor M. Dostojewski: "Die Dämonen". Regie: Frank Castorf. Volksbühne, Berlin, Rosa Luxemburg-Platz

Weitere Vorstellungen: 28., 29. Mai, 4., 5., 13., 19. Juni; Schauspielhaus Hamburg: 24., 25. Juni.