»Vierte Liga, aber auf jeden Fall Holzklasse«

Ein Gespräch mit dem Politologen Elmar Altvater über die Perspektiven für den Wiederaufbau des Balkan

Der Westen müsse nach Beendigung des Krieges einen Marshall-Plan nach US-amerikanischem Vorbild für die Balkan-Region initiieren, hat US-Präsident William Clinton vorgeschlagen. Ist dieser historische Vergleich überhaupt zulässig?

Natürlich nicht. Der Marshall-Plan wird immer dann angeführt, wenn irgendwo eine Katastrophe angerichtet wurde und man glaubt, diese durch Finanzhilfen beheben zu können. Nach dem Vietnam-Krieg wurde ein Marshall-Plan für Südostasien gefordert, in den achtziger Jahren für die verschuldeten Länder Lateinamerikas, ebenso für die osteuropäischen Länder nach 1989. Aber dieser Plan ist ein Mythos, der nur in der spezifischen Situation während des Kalten Krieges funktioniert hat. Damals waren die Wachstumsraten überall in der Welt sehr hoch; es gab international keine freien Kapitalmärkte - alle diese Voraussetzungen treffen heute nicht mehr zu. Die Rede von einem neuen Marshall-Plan ist nichts als Ideologie.

Außenminister Joseph Fischer hat eine massive Unterstützung der EU für die Region gefordert. Kann mit entsprechenden Mitteln ein Wiederaufbau gelingen?

Man weiß bereits aus Bosnien, daß die Absorptionsfähigkeit der Region gar nicht ausreicht, um massive Geldspritzen aufnehmen zu können. Was anschließend passiert, ist auch klar: Vor allem die Mafia wird von diesen Finanzhilfen profitieren, und am Ende gibt es eine noch ungleichere Verteilung als jemals zuvor.

Wie sehen dann die Perspektiven für eine Aufnahme der Balkanstaaten in die EU aus?

Diese Region ist in absehbarer Zeit nicht in die EU zu integrieren. Denn die neuen Beitrittskandidaten müßten den acquis communitaire, also das in der EU bereits erreichte Niveau an wirtschaftlichen und politischen Gemeinsamkeiten, erfüllen. Und dies wird heute nicht einmal von Polen oder Tschechien erreicht - geschweige denn von den Balkanstaaten.

Also eine Art Zweite-Klasse-EU?

Das wäre noch sehr hoch gegriffen. Eher vierte oder fünfte Liga, aber auf jeden Fall Holzklasse.

Wird der Wiederaufbau nur Kosten verursachen oder existieren im Westen auch ökonomische Interessen an der Region, z.B. als Absatzmarkt?

Der Absatzmarkt wird nur entstehen, wenn dort auch eine entsprechende Nachfrage geschaffen wird. Das Geld, das in den Balkan investiert wird, fließt dann sofort wieder nach Westeuropa, z. B. nach Deutschland zurück. Das ist ein Ankurbelungsprogramm für die deutsche Wirtschaft, aber nicht für den Balkan.

In einer aktuellen Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung werden zwei Alternativen für das Kosovo formuliert: Entweder es kommt zu einer Art "Lagerökonomie", ähnlich wie in den palästinensischen Camps im Libanon. Oder der Westen finanziert den Aufbau einer Subsistenzwirtschaft für das Kosovo, um die "in der Logik der modernen Wirtschaft überflüssigen Menschen" daran zu hindern, wie es in dem Papier heißt, "in die EU-Arbeitsmärkte einzudringen". Sind das die realen Aussichten?

Dies wird auf jeden Fall geschehen - egal, was man tun wird. Denn selbst wenn viel Geld in die Region hineingepumpt und Großprojekte errichtet werden, wird dies nur für kurze Zeit Arbeitsplätze schaffen. Die Region ist so zerstört, daß den Menschen dort gar nichts anderes übrig bleibt, als sich in der Subsistenzwirtschaft oder in der informellen Ökonomie ein geringes Einkommen zu verschaffen - ein Einkommen, das meistens nicht einmal monetärer Natur ist.

Die Entwicklung wird vermutlich ähnlich verlaufen wie in Rußland oder in den abgekoppelten Ökonomien Afrikas und Lateinamerikas. Dort sind rund 80 Prozent der Arbeitskräfte im informellen Sektor beschäftigt, der nicht in den Weltmarkt integriert ist.

Ein Grund für die Auflösung Jugoslawiens waren auch die großen ökonomischen Unterschiede innerhalb des Landes, z.B. zwischen Kroatien und Slowenien auf der einen Seite und Serbien auf der anderen.

Serbien ist inzwischen weitgehend zerstört, die Infrastruktur existiert nicht mehr. Außerdem ist es möglich, daß selbst Rumpf-Jugoslawien nach diesem fürchterlichen Krieg noch weiter aufgeteilt wird. Das Land wird vermutlich auch nicht in den Genuß von finanzieller Unterstützung kommen. Denn es sollen nur die "demokratischen Länder" an der Balkan-Konferenz teilnehmen - und so lange Milosevic und seine Nachfolger da sind, wird Jugoslawien niemals von den Westeuropäern akzeptiert. Das können sie deshalb nicht tun, weil sie sonst ihre Rechtfertigung für die Bombardierung verlieren würden.

Soll das heißen, daß dort europäische Protektorate entstehen werden?

Protektorate wohl nicht, weil die staatliche Souveränität erhalten bleibt, vielleicht mit Ausnahme des Kosovo. Denn dies würde auf Dauer zuviel Geld kosten und zuviel Verantwortung bedeuten. So wie der Balkan jetzt hergerichtet worden ist - nicht zuletzt durch die Außenpolitik der deutschen Bundesregierung seit 1991 - wird die Region eine dauerhafte Belastung für Europa sein.

Welchen Anteil hat die deutsche Balkan-Politik an dieser Entwicklung?

Die Bundesregierung hat 1991 die kroatische und slowenische Republik sehr schnell anerkannt und damit die Auflösung Jugoslawiens und seine Verwandlung in ethnische Republiken unterstützt. Jugoslawien war ein Beispiel für die Möglichkeit der Koexistenz mehrerer Ethnien, mehrerer Religionen und unterschiedlich entwickelter Landesteile in einem Staat. In Bosnien-Herzegowina wurde dann versucht, diese Aufspaltung zu verhindern - was nicht mehr funktionieren konnte. Und jetzt will man wieder nach ethnischen Kriterien das restliche Jugoslawien auflösen, indem man der UCK erlaubt, das Kosovo abzuspalten. Im Vertrag von Rambouillet war die Unabhängigkeit - nach einer Übergangszeit von fünf Jahren - durchaus vorgesehen. Diese Politik hat zu den katastrophalen Konsequenzen geführt, die wir jetzt miterleben müssen.

Zuerst wird die Region zerstört, um sie danach wieder aufzubauen: Folgt dieser Krieg noch einer gewissen Rationalität oder ist er mittlerweile außer Kontrolle geraten?

Die Nato hat sich mit der Kapitulation Jugoslawiens ein irrationales Kriegsziel gesetzt, das mit rationalen Mitteln überhaupt nicht mehr erreicht werden kann - es sei denn, man macht Serbien tatsächlich dem Erdboden gleich. Deswegen auch die vielen "Kollateralschäden": Wenn alle kriegswichtigen Ziele bereits mehrfach angegriffen wurden, bleiben in so einem kleinen Land nur noch zivile Ziele übrig.

Aber es gibt auch eine Rationalität, die eng mit den gegensätzlichen Interessen der Europäer und der USA verbunden ist: Dieser Krieg schwächt natürlich Europa und damit auch den Euro und stärkt entsprechend Dollar und Pfund. Außerdem rechnen die USA sicherlich damit, daß Jugoslawien nach dem Krieg im Sinne der Nato und der damit verbundenen geostrategischen Interessen wieder aufgebaut werden kann, sowohl was die materielle Infrastruktur wie auch was das politische System anbelangt. Und nicht zuletzt geht es hier um einen neuen Rüstungswettlauf, der für Rußland, aber auch für China und Indien schwerwiegende Probleme aufwirft und der den Kalten Krieg ersetzen wird.

Das Ende des Krieges auf dem Balkan könnte also der Ausgangspunkt neuer Konflikte sein?

Es sieht so aus, daß sich die Europäer darauf einlassen - auch die Bundesregierung mit ihrem Außenminister Fischer. Das ist eine außerordentlich gefährliche Linie. Man muß nicht nur aus moralischen Gründen gegen die Bombardierung sein. Man kann auch aus sehr guten realpolitischen Gründen sagen: Lieber Fischer, was ihr da macht, ist der helle Wahnsinn.