Alles oder nichts

Die Anklage gegen Slobodan Milosevic vor dem UN-Kriegsverbrechertribunal bringt die Friedensverhandlungen durcheinander

Besondere Maßnahmen erfordern besonderes Pathos. Eine solche besondere Maßnahme war am vergangenen Freitag die Anklage von Slobodan Milosevic und vier weiteren jugoslawischen Politikern durch das UN-Kriegsverbrechertribunal in Den Haag.

Luise Arbour, seit 1996 Chefanklägerin, dichtete bedeutungsschwanger: "Nun ist die Welt für sie kleiner geworden." Die Belgrader Führungsgarnitur wird angeklagt, 700 000 Kosovo-Albaner aus der serbischen Provinz deportiert zu haben und die Exekution von 340 jungen Männer befohlen zu haben.

Der Haftbefehl gegen Milosevic, den serbischen Präsidenten Milan Milutinovic, Vize-Premier Nikola Sainovic, Generalstabschef Dragoljub Ojdanovic und den serbischen Innenminister Vlajko Stojiljkovic kommt nur auf den ersten Blick ungelegen: Gerade liegen die Friedensverhandlungen der G 8-Gruppe im Endspurt, und der russische Sondergesandte Viktor Tschernomyrdin penetriert ausschließlich den nunmehrigen Kriegsverbrecher Slobodan Milosevic mit der Bitte, doch endlich den Friedensplan zu akzeptieren.

Dementsprechend verbittert ist man in Moskau auch über den augenscheinlichen Alleingang der ehrgeizigen UN-Chefanklägerin: Das russische Außenministerium reagierte ungehalten auf die Ausstellung des Haftbefehls gegen Milosevic. Schließlich, so Tschernomyrdin, sei jeder Lösungsversuch ohne den jugoslawischen Präsidenten zum Scheitern verurteilt.

Naturgemäß sieht man das auch in Belgrad so: Ivica Dacic, Pressesprecher der regierenden Milosevic-Sozialisten bezeichnete die Anklage des Haager Kriegsverbrechertribunals als eine "Show unter der Regie der Nato-Verbrecher". Zwecks Mythologisierung des Kriegsverbrechers Milosevic zum Volkshelden bezeichnete Dacic den Schritt auch noch als "Anklage gegen das gesamte serbische Volk". Womit der Mann recht haben könnte: Auch die serbische Opposition kritisierte den plötzlichen Bannfluch aus Den Haag: Das Haager Tribunal habe jahrelang geschwiegen, und nun sei plötzlich die halbe serbische Regierung auf der Fahndungsliste der Vereinten Nationen.

In Serbien betrachtet man die Mutation Milosevics vom Friedensengel des Dayton-Vertrages zum Kriegsverbrecher eher als politischen Schachzug denn als Durchsetzung internationalen Rechts. "Dies ist ein geplanter Rückschlag für die Friedensgespräche", vermutete etwa Vladan Batic vom Bund für Veränderungen, einer Oppositionspartei.

Eine durchaus nachvollziehbare Behauptung: Selbst nach dem prinzipiellen Einverständnis der jugoslawischen Führung zum Friedensplan der G 8 bleiben die westlichen Staatskanzleien ob der Belgrader Versprechungen skeptisch: "Man hat ähnliches von Milosevic schon mehrfach gehört, und bei ihm weiß man, daß es absolut auf das Kleingedruckte ankommt", formulierte etwa Günter Verheugen, Staatsminister im Bonner Außenamt. Auch die Nato selbst zeigt sich von dem Einverständnis Slobodan Milosevics gänzlich unbeeindruckt: Bei einem Geheimtreffen ihrer Verteidigungsminister am vergangenen Donnerstag in Bonn wurden eine Erweiterung der Luftangriffe und die Anforderung zusätzlicher Flugzeuge beschlossen. Auch die Bedingungen für eine Invasion mit Bodentruppen wurde erörtert - jedoch ohne eine Einigung zu finden.

Die Skepsis gegenüber dem Einlenken Milosevics aber rührt nicht nur aus der schon mehrmals bewiesenen Wortbrüchigkeit des jugoslawischen Präsidenten. In seinen Gesprächen mit Tschernomyrdin dürfte es dem Belgrader Staatschef gelungen sein, den ursprünglichen G 8-Plan völlig zu verwässern: Während die Nato den Kern der Friedenstruppe im Kosovo bilden möchte, will Milosevic das Militärbündnis, das Jugoslawien gerade in Schutt und Asche bombt, verständlicherweise nicht im Land haben - lediglich Soldaten neutraler Staaten sollen in der südserbischen Provinz stationiert werden.

Die Nato-Truppen hingegen müßten sich, ginge es nach Milosevic, in Albanien und Mazedonien darauf beschränken, die Rückkehr der Flüchtlinge abzusichern und die von diesen Ländern aus operierende UCK in Schach zu halten. Auch von einem Nato-Oberkommando über die Truppe ist in dem Milosevic-Tschernomyrdin-Papier keine Rede mehr: Ein Militär eines neutralen Staates soll das Oberkommando übernehmen.

Der geplante Rückschlag bei den politischen Bemühungen um eine Friedenslösung aber könnte seinen Ursprung auch in der UCK haben. Schließlich bedeutet selbst der ursprüngliche G 8-Plan nur ein Recycling des ohnehin schon gestorbenen Vertrages von Rambouillet. Weder eine Unabhängigkeit des Kosovo noch eine Rolle der UCK als staatstragendes Organ ist Teil des Plans - wo die G 8 also die Unterschrift der Separatisten herbekommen will, ist mehr als fraglich. Der Europa-Sprecher der UCK, Sabri Kicmari, schließlich hatte schon vor mehreren Wochen gegenüber Jungle World den Plan abgelehnt: Weniger als eine Unabhängigkeit des Kosovo komme gar nicht in Frage und auch die geplante Entwaffnung der UCK sei völlig inakzeptabel. Bislang vermied die Nato öffentliche Reaktionen auf die Abfuhr durch die UCK, doch nun könnte sich die Skipetaren-Guerilla in Brüssel Gehör verschafft haben.

Sollte also Louise Arbour weniger ihrem Juristendrang gefolgt sein als eher dem Wunsch, die Nato vom ihrer Meinung nach mißglückten G 8-Plan zu befreien, so hat sie damit eine "Alles-oder-nichts"-Automatik in Gang gesetzt: Mit einem Kriegsverbrecher Milosevic könnte die Nato kaum verhandeln, also bleibt nur dessen Ausschaltung. Dafür wiederum müßte sie nach Belgrad marschieren - ein militärisch gewagtes Abenteuer.

Mindestens 130 000 Mann würde man nach Nato-Schätzungen benötigen, um Belgrad zu erobern. Schwierig auch die Sache mit dem Aufmarschgebiet: Politisch durchführbar wäre eine Nato-Invasion nur von albanischem Boden aus. Mazedonien will sein Gebiet nicht für eine Invasion zur Verfügung stellen und auch der Nato-Neuling Ungarn möchte aus Rücksicht auf die ungarische Minderheit in der nordserbischen Vojvodina vom eigenen Territorium aus keine Truppen in das Nachbarland Jugoslawien entsenden.

Die andere Möglichkeit einer Erklärung des Arbour-Schrittes aber wäre ein noch viel raffinierterer Deal zwischen Nato und UN-Tribunal: Milosevic könnte pro forma angeklagt werden und als Bonbon die Möglichkeit haben, sich von einer längeren Haftstrafe in den Niederlanden mit einer Unterschrift unter einen wie auch immer gearteten Friedensplan freizukaufen.

Dies würde der Nato die Möglichkeit geben, dem Belgrader Unbezähmbaren viel schärfere Bedingungen zu diktieren, als sie im G 8-Plan festgeschrieben sind. Allerdings meinte ein Mitarbeiter Arbours in der International Herald Tribune: "Wenn die Nato tatsächlich so etwas verlangt, würde Arbour sofort zurücktreten - und mit ihr die meisten Mitarbeiter." Die 56jährige Juristin dürfte das verkraften - ihr winkt ein Job am höchsten Gericht Kanadas.

Sicher scheint indes nur, daß die Anklage den USA nicht ungelegen kommt. Denn die verschiedenen europäischen Friedenspläne, wie zuletzt der des italienischen Ministerpräsidenten Massimo D'Alema, stoßen in Washington auf wenig Begeisterung. Auch der Wille der Europäer, Rußland in die Verhandlungen einzubinden, deckt sich nicht mit den Plänen der USA. Dort scheint man auf eine bedingungslose Kapitulation Jugoslawiens zu setzen - die wohl nur mit Kampftruppen zu erreichen ist. Durch die Anklage werden - wie vor wenigen Wochen nach der Bombardierung der chinesischen Botschaft - die Friedensverhandlungen zusätzlich erschwert und Rußland vor den Kopf gestoßen. Louise Arbour drückte es am Donnerstag anläßlich ihrer Pressekonferenz diplomatisch aus: "Einige werden sagen, die Anklage kommt zu spät, andere sagen, sie kommt zu früh."

Wie auch immer, der Frankfurter Allgemeinen jedenfalls war sie mehr als recht: Der Nato bleibe nun "nichts anderes mehr übrig, als mit Landstreitkräften den Kampf um die Rechte der Kosovo-Albaner zu entscheiden", kommentierte das Blatt am Tag nach der Anklage: "Realpolitisch kommt sie zum genau richtigen Zeitpunkt. Die Anklage im Haag ist daher nicht nur aus völkerrechtlichen Gründen zu begrüßen; sie erschwert auch fatale Kompromisse mit einem Aggressor und erhöht den Druck auf das atlantische Bündnis, eine nicht leichte, aber längst fällige Entscheidung zu treffen." Na dann.