Der doppelte Vize

Ein verdeckter Machtkampf im Kreml führte zu einer extrem verkürzten Amtszeit des Stellvertretenden Premierministers Sadornow

Den Urlaub hatte er sich verdient. Nach elf anstrengenden Tagen Moskauer Machtkampfs hat sich Boris Jelzin am 21. Mai in seine Datscha im Schwarzmeerort Sotschi zurückgezogen. Und von dort aus wurden die wesentlichen Personalentscheidungen in die Wege geleitet. Auf der Strecke blieben eine Regierung unter Premier Jewgeni Primakow und ein in der Duma gescheitertes Amtsenthebungsverfahren.

Dafür reflektiert ein neuer Planet das Licht des Zentralgestirns Jelzin am politischen Himmel Rußlands: Sergej Stepaschin, der Ex-Innenminister und -Geheimdienstchef, ist als Ministerpräsident von dem Unterhaus des russischen Parlaments, der Duma, mit großer Mehrheit anerkannt worden. Als erste Amtshandlung sah sich der neue Würdenträger bemüßigt zu erklären: "Nein, ich bin nicht Pinochet."

Vor seiner Wahl wurde im Kreml unverhüllt über die Auflösung der Duma und die Ausrufung eines Ausnahmezustandes spekuliert. Das sind nicht nur leere Drohungen. Im russischen Establishment wird schon lange die Option einer Modernisierung der Ökonomie und Demokratie nach chilenischem Muster - autoritärer Staat und liberale Wirtschaft - diskutiert; als Vertreter dieser Option gelten beispielsweise der ehemalige Chefprivatisierer Anatoli Tschubais und der milliardenschwere Boris Beresowski. Beide sind in Jelzins unmittelbarer Umgebung wieder aufgetaucht und hatten nach russischen Presseberichten bei der Neubildung der Regierung ein Wörtchen mitzureden.

Schon die Vorgeschichte der Wahl Stepaschins trug alle Züge einer Palastintrige. Am 12. Mai hatte Jelzin den Premier Primakow entlassen. Kaum hatte der Kreml die Demission bekannt gegeben, hieß es aus der Duma, der nächste Premier werde Nikolai Aksjonenko, ein wenig bekannter Eisenbahnminister, dem beste Verbindungen zu dem milliardenschweren Tycoon Boris Beresowski und zum inner circle um Jelzin nachgesagt werden. Aber es sollte anders gekommen. Kurz darauf wurde erklärt, der Kreml habe Stepaschin für den Posten nominiert. Und der wurde dann auch Premier.

Jelzins Schwanken muß nicht zufällig gewesen sein: Russische Zeitungen berichteten über einen Machtkampf in Jelzins nächstem Umfeld, und zwar zwischen Tschubais und Beresowski, der hinter Aksjonenkos Nominierung stand. Denn große Interessen stehen auf dem Spiel, insbesondere hinsichtlich der Zukunft der sogenannten Oligarchen - jener Tycoons, die sich mittels politischer Protektion während russischen Privatisierungen Banken, Rohstoffkonsortien und Medien angeeignet hatten. Die russische Regierung hat die unterschiedlichen Interessen des russischen Kapitals mit denen der internationalen Gläubiger und Investoren auszutarieren. Und da kann es nicht schaden, direkten Einfluß auf das Regierungspersonal zu haben.

Immerhin ist Aksjonenko, der ehemalige Eisenbahnminister, mittlerweile frischgebackener Erster Stellvertretender Premierminister. Und er versuchte nach russischen Presseberichten, die Ernennung des Ex-Finanzministers Michail Sadornow zum zweiten Ersten Stellvertretenden Ministerpräsidenten in letzter Minute zu verhindern - um sich selbst die zentrale Einflußmöglichkeit auf die russische Wirtschaft und Finanzpolitik zu sichern. Er reiste zu einem geheimen Treffen nach Sotschi, um Jelzin umzustimmen.

Allerdings vergeblich: Sadornow bekam sein neues Amt, die wirtschaftspolitische Schlüsselposition in der Regierung. Und die Zeitung Kommersant daily kommentierte: "Der detektivartige Plot der Sotschi-Verhandlungen zeigt, wie bitter die entscheidende Schlacht um die Kontrolle der Regierung tatsächlich ist."

Sadornows Nominierung war die weitreichendste Veränderung gegenüber der Primakow-Regierung. Ausgebootet wurde damit Juri Masljukow, ein KP-Mitglied, der sich um die Ökonomie kümmerte und dem eine Vorliebe für Verstaatlichungen von Schlüsselindustrien nachgesagt wurde, zu denen er allerdings nicht kam. Sadornow hingegen ist begeisterter Anhänger des Marktes, war ursprünglich Mitglied in Tschubais' ökonomischem Team und genießt Sympathien bei westlichen Finanzinstitutionen und Investoren. Zudem hatte er seit dem Finanzdesaster im vergangenen August auch wertvolle Erfahrungen gesammelt, wie man in Rußland einen Wirtschaftscrash organisiert und dennoch politisch überlebt.

Die nützten ihm nun allerdings nicht viel. Seine Amtszeit war außergewöhnlich kurz. Nach drei Tagen reichte er am Freitag vergangener Woche seinen Rücktritt ein. Seine Begründung: Er habe versucht, vom Kreml Rückendeckung zu bekommen, weiterhin die Kontrolle über das Finanzministerium auszuüben - indem er weiterhin als Finanzminister fungiere oder einen Nachfolger bestimme; das hätte nicht geklappt.

Damit hat sich die Waagschale im verdeckten Machtkampf zwischen Tschubais und Beresowski zugunsten des Tycoons gesenkt. Denn damit ist Beresowskis Mann Aksjonenko gestärkt. Und der hatte bereits Mitte vergangener Woche Sadornow die alleinige Kompetenz in Sachen Wirtschafts- und Finanzpolitik streitig gemacht: Er werde für alle Richtungen der Regierungsarbeit zuständig sein und wolle sich auch die Staatsmonopole unterordnen, zitierte die FAZ Aksjonenkos Aussagen im Rundfunksender "Echo Moskaus". Außerdem stellt sich nun die Frage, ob der frischgebackene Premier Stepaschin nicht das nächste Opfer der Kreml-Intrigen wird.

Das Chaos in der neuen russischen Regierung fällt in eine delikate Periode. Denn der Internationale Währungsfonds soll überzeugt werden, daß er nicht nur Zusagen für neue Kredite macht, sondern tatsächlich das Geld auch ausspuckt.

Das hat Tücken: Bedingung des IWF für den Anfang März ausgehandelten Kredit in Höhe von 4,5 Milliarden Dollar - mit dem alte Schulden an den IWF beglichen werden sollen - ist, daß die Duma einer Reihe von neuen Wirtschaftsgesetzen zustimmt. Und die, so bemerkte Grigori Jawlinski, Chef der liberaldemokratischen Partei Jabloko, kürzlich, könnte nicht einmal Gott durch die von KP und Nationalisten dominierte Duma bringen.

Insbesondere zwei Punkte sollen als Vorbedingung für die Auszahlung der Kredite erfüllt werden: Zahlungsunfähige Banken sollen beschleunigt in Konkurs gehen; das betrifft die Mehrzahl der russischen Banken und nach einem internen Bericht der Weltbank selbst 15 der 18 größten Banken Rußlands. Des weiteren sollen die seit Jahren überaus niedrigen Steuereinnahmen des russischen Staates erhöht werden, u.a. durch das Eintreiben der Steuerschulden der großen Ölfirmen und des Erdgasmonopolisten Gazprom. Beide Vorhaben dürften bei den sogenannten Oligarchen Rußlands, zu denen auch Beresowski gehört, leichte Panik auslösen.

Und der Spielraum des russischen Staates in den Verhandlungen mit IWF und westlichen Investoren ist begrenzt. De facto ist der russische Staat bankrott.

In der vergangenen Woche wurden die privaten Gläubigerbanken des "Londoner Clubs" um einen Aufschub von sechs Monaten für Zinszahlungen aus Altschulden der Sowjetunion in Höhe von knapp 580 Millionen Dollar gebeten. Ob dieser Aufschub gewährt wird, steht in den Sternen. Angeblich will Moskau auch für Kredite von den staatlichen Gläubigern des "Pariser Clubs" in der stattlichen Höhe von 38 Milliarden Dollar eine Umschuldungsvereinbarung erreichen.

Aber noch ist Rußland nicht verloren. Ein weiterer Regierungsposten ist zu vergeben, ein weiterer Stellvertretender Ministerpräsident muß her. Mit einem ganz speziellen Aufgabenbereich: als Lobbyist für den russischen militärisch-industriellen Komplex. Im Kontext des Krieges der Nato gegen Jugoslawien bekommt dieses neue Amt eine ganz besondere Note.