Die Stunde des Mister Gasp

Beim Kölner EU-Gipfel soll der Startschuß für eine kontinentale Streitmacht fallen

"Wenn die Europäer das Gefühl haben, daß sie in der Nato von den USA dominiert werden könnten, dann liegt es an ihnen selbst, das zu ändern." Schon eine kleine Provokation, die Günter Verheugen, Staatsminister im Auswärtigen Amt, da sofort nach den Feierlichkeiten zum 50. Jubiläum der Allianz im April im TV-Magazin "Kennzeichen D" von sich gab. Er forderte zu mehr Mut auf, endlich "eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik zu entwickeln". Mit Blick auf den Krieg in Jugoslawien, der militärisch vor allem von den USA getragen wird, plädierte er für ein hauseigenes europäisches Krisenmanagement "mit und ohne Rückgriff auf die Kapazitäten der Nato".

Da empfahl sich mit kernigen Worten ein Mann als Rammbock, der sonst eher dafür bekannt ist, im Hintergrund die Strippen zu ziehen. Natürlich kein Zufall, schließlich wird vor dem am 3. Juni in Köln beginnenden EU-Gipfel der richtige Mann für den Posten des "Mister Gasp" gesucht - sprich: der Repräsentant der Europäischen Union für die "Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik" der EU. Bundeskanzler Gerhard Schröder selbst hatte Verheugen als eine "Idealbesetzung" für dieses Amt gepriesen. Der Kanzler hatte zuvor empfohlen, den Job in einer Art Personalunion mit dem Posten des Generalsekretärs der Westeuropäischen Union (WEU) zu vergeben.

Die Berufung des Mister Gasp, der die Außen- und Sicherheitspolitik der EU koordinieren soll, war im Vertrag von Amsterdam beschlossen worden, der am 1. Mai in Kraft trat. Vor allem Großbritannien und Frankreich hatten Ende letzten Jahres darauf gedrängt, die EU für künftige Militäraktionen in Krisengebieten handlungsfähig zu machen. Damit wurden zumindest auf dem Papier die Grundlagen für die Umsetzung der sogenannten Petersberger Aufgaben geschaffen - also den Einsatz von WEU-Streitkräften bei humanitären und Rettungseinsätzen, bei friedenserhaltenden und friedenserzwingenden Kampfeinsätzen. Die EU soll dabei eine Leitlinienkompetenz gegenüber der WEU erhalten.

Die Bemühungen der Europäer laufen darauf hinaus, der gemeinsamen Euro-Währung nun auch eine europäische Verteidigungspolitik zur Seite zu stellen, die auf eine Euro-Armee zurückgreifen kann. Offensichtlich paßt es vor allem Franzosen und Deutschen nicht, daß die US-Amerikaner noch immer die einzigen sind, die sich die Welt mit militärischen Mitteln zurechtbiegen können. Wie im Irak oder in der Materialschlacht um den Einfluß in Jugoslawien. Und die Amerikaner behalten durch dieses Engagement auch politischen Einfluß beim wirtschaftlichen Konkurrenten Europa.

Das stinkt beispielsweise den europäischen Rüstungskonzernen, die vor allem nach Ende des Kalten Krieges mit Absatzschwierigkeiten kämpfen. Ihre Überlegenheit lassen die US-Militärs die "verbündeten" Nato-Europäer selbst beim Zugang zu Aufklärungsergebnissen ihrer Spionage-Satelliten spüren. Diese Gängelung zeigt offensichtlich Wirkung.

Alles könnte ja in Krisen- und Verteidigungsfällen längst so schön sein: Eine Planungs- und Analyseeinheit der EU würde Mister Gasp im Krisenfall innerhalb von zwölf Stunden einen ersten Aktionsplan vorlegen. Innerhalb von 24 Stunden würden die Außenminister der EU-Staaten während einer Telefon-Bildschirmkonferenz eine gemeinsame Linie aushandeln. Nach 48 Stunden würden die ersten operativen Maßnahmen von EU-Streitkräften anlaufen. Eine Vision, die bereits Bundesaußenminister Klaus Kinkel hatte - im Jahre 1996. Umzusetzen war sie bis heute nicht.

Vor allem wohl, weil die Mitgliedsländer von WEU und EU ganz unterschiedliche nationale Interessen und Weltsichten haben. So ist für Schweden, Irland, Österreich oder auch Finnland die Neutralität beispielsweise noch immer Grundsatz der nationalen Sicherheit. Ganz im Gegensatz zu manchen französischen Politikern, die sich Europa als Weltmacht wünschen. Beim 73. deutsch-französischen Gipfel in Toulouse am Wochenende hatte Staatspräsident Jacques Chirac gar davon gesprochen, daß nach dem Euro eine gemeinsame europäische Verteidigung das nächste große Projekt der EU sein müsse.

Etwas vorsichtiger formulierte diesen Anspruch Anfang des Jahres Verteidigungsminister Rudolf Scharping in der Welt: "Der wirtschaftliche Riese darf politischer Zwerg nicht bleiben. (...) Unser Ziel bleibt ein handlungsfähiges Europa, das auch in internationalen Angelegenheiten mit einer Stimme spricht und die eigenen Interessen in und für Europa entschlossen und selbstbewußt zu wahren weiß. Die schmerzliche Erfahrung europäischer Ohnmacht in Bosnien soll sich nicht wiederholen."

Doch der amtierende WEU-Generalsekretär José Cutileiro weiß, daß Scharping hier träumt. Sein Schluß aus dem Kosovo-Krieg lautet kurz: "Die Europäer müssen mehr für ihre Verteidigung tun. Sie müssen mehr Geld aufbringen und es besser ausgeben." Milliarden müssen vor allem für Forschung und Entwicklung neuer Waffensysteme fließen. Die Amerikaner gäben sechsmal mehr aus, der europäische Rüstungssektor sei in zu viele einzelne Unternehmen zersplittert. Gemeinsam hätten die EU-Länder zwar zwei Millionen Soldaten, erforderlich seien aber kleine hochmoderne Einheiten statt der Massenheere.

Allein hätten die Europäer den Krieg gegen Jugoslawien nach Ansicht von Cutileiro derzeit nicht führen können. Es fehlten die richtigen Waffen sowie die Satellitenaufklärung. Eine gemeinsame Euro-Armee sieht der Portugiese trotzdem mit Skepsis. Im Moment werde das nicht geplant. Vielleicht werde sie einmal in einer weit entfernten Zukunft kommen. "Ich halte es aber aus politischen und finanziellen Gründen für unklug, eine von der Nato getrennte neue Organisation aufzubauen", sagt er.

Noch beim Frühjahrstreffen der Verteidigungsminister der WEU hatte Scharping angekündigt, bis Ende 2000 die Verschmelzung von WEU und EU auf den Weg zu bringen. Beim EU-Gipfel in Köln sollte diese Woche der Startschuß dafür gegeben werden.

Doch seit letztem Wochenende sieht wieder alles anders aus. Nach einem Treffen mit 21 Verteidigungsministern von EU- und Nato-Staaten soll es entgegen ursprünglicher Planung in Köln nun doch keinen Beschluß zur Integration des Militärpakts WEU in die EU bis Ende 2000 geben. Das Thema stehe "zur Zeit noch nicht auf der Tagesordnung", meinte Scharping trocken. Vor allem neutrale EU-Mitglieder wie Schweden und Österreich hatten Bedenken geäußert. Schwedens Verteidigungsminister Björn von Sydow stimmte einem gemeinsamen Vorgehen bei internationalen Friedenseinsätzen zwar zu, eine Integration der WEU in die EU lehnte er aber ab. Die neutralen Staaten in der Runde befürchten schlicht, in Krisensituationen zu ungewollter Bündnissolidarität gezwungen zu sein. Die Türkei und Norwegen befürchten ihrerseits, daß die militärisch gestärkte EU in Konkurrenz zur Nato treten könnte.

Und auch aus der Krönung von Günter Verheugen zum Mister Gasp wird wohl nichts. Dieser hatte am vergangenen Wochenende im Deutschlandfunk eine Kandidatur für den Posten ausgeschlossen. Schließlich hat er mit dem noch bis Ende des Jahres amtierenden Nato-Generalsekretär Javier Solana einen übermächtigen Konkurrenten mit Kriegserfahrung. Als möglicher Kandidat gilt auch noch der französische Außenminister Hubert Védrine.

Doch längst kursieren Gerüchte, daß man sich unter der Hand auf Solana für das Amt geeinigt habe. Neuer Nato-Generalsekretär könnte dann ein Deutscher werden, da die Bundesrepublik derzeit kein Spitzenamt im Militärpakt inne hat. Allerdings wieder nicht Verheugen - Verteidigungsminister Rudolf Scharping ist im Gespräch.