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"Heller als die Sonne" von Kodwo Eshun erzählt den Zukunftsschock elektronischer Breakbeats als Abenteuer in Sonic Fiction.

Spätestens seit dem "Loving The Alien"-Symposium an der Berliner Volksbühne ist der britische Musikjournalist Kodwo Eshun (u.a. The Wire, iD) auch hierzulande ein gern gesehener Gast auf allerlei semi-akademischen Veranstaltungen, bei denen sich der pop- und kunsttheoretische Jet-Set trifft, um über jene dringlichen Fragen zu parlieren, die am Ende des "Millenniums" im Feuilleton auf der Tagesordnung stehen, und über die Historiker des 21. Jahrhunderts vielleicht einen viel präziseren Zugriff auf das politisch Unbewußte dieser Epoche bekommen werden als über ihre manifesten Selbstbeschreibungen: die Zukunft des Menschen, das Verhältnis von Technologie und Körper im Lichte der Cyber- Science, die Effekte der digitalen Revolution.

Um solche Fragen knackig und entsprechend apodiktisch beantworten zu können, bedarf es natürlich der Vorstellungsgabe eines Science Fiction-Autors und einer gehörigen Portion Größenwahn. Von beidem hat Kodwo Eshun genug - aber das alles mindert keineswegs die Verdienste seiner Studie afrofuturistischer Renegaten innerhalb der Geschichte der schwarzen Musik der letzten 40 Jahre, die einen Bogen von Pharoah Sanders bis Underground Resistance, von Sun Ra über die Ultramagnetic MCs und Stockhausen bis zu Goldie und A Guy Called Gerald spannt.

Die Erwartungen an "More Brilliant Than The Sun", das nun in einer kongenialen Übersetzung von Dietmar Dath vorliegt, waren hoch, weil Eshun nicht nur einen großen Koffer spannender Thesen im Gepäck hat, sondern auch ein brillanter Selbstdarsteller ist.

Eshun ist jener Typ von Vielredner oder "Konzeptingenieur", wie er sich selbst bezeichnet, den man immer gerne auf seiner Party hat, der nach zwei Stunden immer noch am Kücheneingang rumlungert und auf unschuldige Opfer einredet - und selbst nach mehreren Ganja-Spliffs mit seinem "Co-Piloten" und Black Audio Film Collective-Kumpel Edward George um sechs Uhr morgens in Berliner Kellerdiscos noch endlos mit "Gedankengeschwindigkeit" (Kool Keith) zwischen Chris Markers "Sans Soleil", John Coltranes erstem Acid-Trip, den neuesten Gerüchten über die Rückkehr Lee Perrys nach Kingston und dem allegorischen Anti-Rassismus in Samuel Fullers "White Dog" hin- und hersurft, um einen dann darauf aufmerksam zu machen, daß die DJane innerhalb der letzten Stunde jetzt schon die zweite Force-Inc-Maxi spielt und er morgen sein gesamtes Honorar bei Hard Wax aus der Aggregatform Geld in Vinyl transformieren werde.

So sehr in diesem ungezügelten Assoziationswahnsinn alles zusammenhängt, so anregend ist dies auch immer. Einst hat Eshun, erzählt er, unter dem lacanistischen Post-Colonialism-Theoretiker Homi Bhabha eine Dissertation über Afrikanismus in der Pariser Künstler-Boheme der zwanziger Jahre begonnen - um dann doch lieber über das zu schreiben, was ihn wirklich interessiert: Schallplatten. Verbunden damit ist nicht nur eine Abkehr vom akademischen Schreibstil, was "Heller als die Sonne" eher den französischen Tonfall des delirierenden Theorie-Jives früher Merve-Bändchen verleiht, sondern auch vom Projekt der Cultural Studies insgesamt.

Gerade diese Immanenz im Umgang mit seinem Material, diese aus den Phänomenen entstehende "Mythowissenschaft" (Sun Ra), ist es dann auch, woraus sich nicht nur Einsichten, sondern auch Fragen ergeben. Eshuns Buch hat zunächst zweierlei im Sinn: eine materialästhetische Konzeptionalisierung von Sound und der ihn bedingenden Verwendungsweisen von Technologie sowie eine Kritik an der in allen Auseinandersetzungen mit afrodiasporischer Musik stillschweigend vorausgesetzten Repräsentanz (ihrer sozialen, historischen und kulturellen Umgebung). Die hierarchisierte Ästhetik des Songs ersetzt Eshun durch eine physische Kinästhetik des Beats, den sozialen Realismus durch antisozialen Surrealismus. Das anti-humanistische Bindeglied dieser beiden Momente ist das Bild des Aliens mit einem sich daraus ergebenden, darunter rhizomatisch wuchernden Metaphernvorrat der Science Fiction.

Damit hofft Eshun, sowohl eine Perspektive auf gegenwärtige Electronica zu gewinnen wie Fehleinschätzungen und falsche Kanonisierungen in der Geschichte schwarzer Musik zu korrigieren - ein Begriff, den Eshun rundweg ablehnt, denn für "Techno ist Düsseldorf das Mississippidelta" Wo die ikonoklastischen Free Jazzer vom Art Ensemble of Chicago eine Great Black Music - Ancient to the Future synthetisierten, reist Eshun wie ein Terminator in umgekehrter Richtung, um solche Essentialismen zu zerstören und Momente der Nicht-Identität freizulegen.

Die gesamte bisherige Theoriebildung und erst recht der rockistische britische Musikjournalismus seien dazu nicht in der Lage gewesen und seien "ein riesiger Trägheitsmotor, der die Breaks ausblenden soll, ein Verblödomat, der alles Denken auf Dauerpause schaltet, ein Stoßdämpfer für Zukunftsschocks, der seine Leser für alle Zeiten von den Cuts, Tracks und Scratches abschirmen soll".

So destilliert Eshun aus der Musikgeschichte - genauer: unmittelbar aus der Musik selbst und dem sie umgebenden Paratext der Linernotes, Cover, Plakate und privatmythologischen Selbstinszenierungen - ein fragmentiertes "Alien-Diskontinuum" der monadenhaft aufblitzenden "Futurrhythmusmaschine". Paul Gilroys Konzept des "Black Atlantic" folgend, entdeckt Eshun ein komplexes Netzwerk musikalischer Bezüge quer durch die Geschichte und Orte der afrikanischen Diaspora, treibt ihm aber jedes geschichtsphilosophisch-utopische Moment, die "ekelhafte und bizarre Ethik der Erlösung" samt ihrem Glauben an den "wahren Menschen", aus.

Es beginnt beim Jazzmusiker Sun Ra, der zeitlebens behauptete, auf dem Saturn geboren worden zu sein, und seit den fünfziger Jahren die Möglichkeiten elektronischer Klangerzeugung erprobte. Es setzt sich in den frühen Siebzigern fort im "afrodelisch"-elektrischen Jazz eines Miles Davis oder Herbie Hancock, der zum ersten Mal die analoge Relation zwischen musikalischer Ursache und Wirkung, Instrument und elektronischen Effekten, umkehrt, und findet seinen schillerndsten Ausdruck in der auf unzähligen Konzeptalben Parliaments und Funkadelics entwickelten "Mothership Connection" eines George Clinton, die schwarze Musik durch Einsatz des Studios von jenen beiden fossilen Orten befreit, an denen sie traditionell gefangen ist: die Straße und die Bühne.

Anders als für den Soul-Historiker Nelson George oder den Funk-Chronisten Rickey Vincent erscheint für Eshun Disco und seine Folgen deshalb nicht als Verfallserscheinung einer stolzen expressiven Tradition, sondern als der emphatisch begrüßte Moment, "als schwarze Musik ihren Sündenfall aus der Gospeltradition erlebte und ans metronomische Fließband verfüttert wurde" und damit zum "musikalischen Ort" wurde, "an dem das 21. Jahrhundert beginnt". In der fragmentierenden "Turntable Terranova" eines Grandmaster Flash, tradiert sich für Eshun dann eben auch kein mit Verweisen an die Plattensammlung der Elterngeneration bestücktes kulturelles Gedächtnis, sondern isoliert und vervielfacht sich der Breakbeat in "die DNS der rhythmischen Psychedelic", die sich im komplett digitalisierten Drum & Bass der Gegenwart dann - den visuellen Spezialeffekten in modernen Blockbusters nicht unähnlich - vollends zum reinen Möglichkeitsraum virtualisiert, weil ihre rhythmischen Muster in keinem realen Raum-Zeit-Kontinuum von realen Musikern mehr zu realisieren sind.

Eshun verzichtet bewußt auf jegliche soziale Bezugnahme und ist dort am besten, wo er seiner phänomenologischen Perspektive konsequent folgt und sich in den winzigsten Details verliert: etwa in der präzisen Lektüre der Coverkunst Mati Klarweins oder bei den "transgenetischen Arten", wie dem Alligatoren-Hai-Menschen-Hybrid Mr. Gerbik, die das anti-ödipale, post-geschlechtliche Porno-Universum eines Dr. Octagon bevölkern. Zudem gelingt Eshun durch eine Reihe atemberaubender Neologismen, was nur wenige Musikjournalisten können: Sound tatsächlich in Sprache zu verwandeln. Eshun hat nicht nur eine große Klappe, sondern auch ein großes Ohr.

Diese Vorgehensweise rückt "Heller als die Sonne" in die Nähe von Gilles Deleuzes Kinobüchern (die ja auch kaum jemand systematisch gelesen hat und eher als Werkzeugkasten taugen). Mit ihnen teilt es genauso das Problem einer impliziten Teleologie, die bei Deleuze notgedrungen auf die Apotheose des Modernismus der europäischen Autorenfilmer zuläuft und sich bei Eshun aus der seine post-humane Cyborg-Archäologie leitenden Dichotomie der Begriffe "Soul" und "Post-Soul" ergibt. "Von Phyllis Wheatley bis R. Kelly ist der R & B der Gegenwart ein nicht enden wollender Kampf um den Status als Mensch, eine einzige Sehnsucht nach den Menschenrechten, ein Kampf um die Zulassung zur Spezies Mensch" - ein Kampf, dessen universalistischen Humanismus der erklärte Anti-Essentialist Eshun längst für erledigt und von vornherein zum Scheitern verurteilt erklärt, weil Minderheiten davon immer schon ausgeschlossen waren.

Es gibt natürlich viele gute politische Gründe, genau da etwas weniger vorschnell vorgehen zu wollen. Es gibt aber auch, steht man vor dem Plattenregal, Gründe, die Post-Soul-Vorgabe als lineare Matrix musikalischer Innovation historisch anzuzweifeln. Spricht man vom Moog-Synthesizer, ist es eben nicht nur der Science Fiction-Jazz von Herbie Hancock und seinen Headhunters, der einem für die frühen Siebziger einfallen kann, sondern genauso Stevie Wonder, der das Instrument auf einer Reihe politischer Soul-Konzept-Alben beispiellos zum Singen gebracht hat.

Gerade Miles Davis "polyrhythmische 'Jazz Fission'" war immer auch an einen Begriff der Emanzipation und des "Respect" gekoppelt - man denke nur an seine Hommage an den schwarzen Boxer Jack Johnson. Neben ihm hätte wiederum der elektrifizierte Afro-Beat eines Fela Kuti seinen Platz, der weniger aus der Zukunft als aus den anti- und post-kolonialen Kämpfen Afrikas seine Sprengkraft bezog. Bei Sun Ra findet sich genausoviel Messianismus wie Despotismus, soviel Avantgardismus wie rebellischer Traditionalismus, mit dem er immer wieder Duke Ellington-Kompositionen auf ihre Gültigkeit hin überprüfte. Und nicht zuletzt wirkt die Affirmation des Maschinellen, die Eshun betreibt, inzwischen wie ein Anachronismus aus den Jahren der ersten Drum & Bass-Begeisterung, denn nichts altert bekanntlich schneller als die Zukunft.

Die spannendsten Entwicklungen der letzten drei Jahre finden denn auch auf ganz anderem Terrain statt: in der Konfrontation elektronischer Musik mit der musikalischen Tradition des Black Atlantic. Wenn House-Produzenten heute jenseits aller Acid-Jazz-Klischees sich wieder vermehrt an Jazz, afrikanischer oder lateinamerikanischer Musik abarbeiten, mögen das die Böswilligsten vielleicht noch als geschmäcklerisches Retro-Phänomen abtun.

Wenn aber, wie Spex-Autor Mark Terkessidis in einer Verteidigung der Soul-Tradition bemerkt hat, Moodyman in Detroit jenseits der üblichen Hiphop-Politik Blaxploitation-Filme sampelt und sich dezidiert auf die soziale Situation der schwarzen Inner-City-Communities bezieht, oder gar Theo Parrish einen Track schlicht "Ebonics" nennt, ist alles wieder da, was Eshun ad acta legen wollte: Sprache, Repräsentation, Autorenschaft, Geschichte.

Kodwo Eshun: Heller als die Sonne. ID, Berlin 1999, 2oo S., DM 30