Mystifikationen um das Tiananmen-Massaker

Ten years after

"Danke, daß Sie mich erinnern. Das hatte ich vergessen." So antwortete nach Angaben der in Hongkong ansässigen South China Morning Post der chinesische Premier Zhu Rongji auf die Frage, wie die Familien der beim Tiananmen-Massaker vor zehn Jahren Getöteten entschädigt werden sollten.

Das war nicht nett, aber auch kein Wunder: Die chinesische Regierung interpretiert die Bewegung, die am 3. und 4. Juni 1989 zusammengeschossen wurde, auch zehn Jahre nach dem Blutbad noch als "konterrevolutionäre Rebellion". Das impliziert, daß die chinesischen Marktwirtschafts-Bürokraten für die Revolution stehen. Und daß eine kommunistische Regierung eine pro-kapitalistische Bewegung niederschlug - was ein Zerrbild sowohl von der bürokratischen Klasse als auch von der Bewegung zeichnet.

Seit 1978 waren die chinesischen Bürokraten damit beschäftigt, ihre Art der Aneignung der Ökonomie zu verändern und die Wirtschaft dem Weltmarkt zu öffnen. Langsam entstanden eine neue Schicht von Unternehmern und neue soziale Trennungen: zwischen den Bauern, deren Los sich durch die Entkollektivierung des Bodens zunächst relativ verbessert hatte, und den städtischen Arbeitern, die unter der Inflation litten, zwischen Parteikadern, die die alte entwertete Ideologie vertraten, und den neuen Business-Bürokraten.

Im April 1989 begannen sich die Studenten zu organisieren. Und am 20. April wurde die Pekinger Autonome Arbeiterföderation gebildet, die in den folgenden Wochen immer mehr Arbeiter mobilisieren sollte und deren Kritik sich vor allem gegen die Korruption der Parteikader und die Ausbeutung richtete. Die Demonstrationen wurden größer und größer, und am 13. Mai begannen die Studenten auf dem Tiananmen-Platz einen Hungerstreik. Am 20. Mai verhängte die Pekinger Führung das Kriegsrecht, und der modernistische Teil der Bürokratie wurde ausgebootet. Deutliches Zeichen dafür war der Hausarrest, der über KP-Generalsekretär Zhao Ziyang verhängt wurde und bis heute andauert. Der hatte die Studenten einen Tag zuvor erfolglos zum Ende der Besetzung des Tiananmen-Platzes aufgefordert und damit gezeigt, daß er die Bewegung nicht kontrollieren konnte.

Die Agitation breitete sich mittlerweile auch auf andere Städte in China aus. Und die Bürokratie suchte ihr Heil in der offenen Repression, die in der Nacht des 3. Juni begann.

Bis heute ist unklar, wie viele Menschen der Repression zum Opfer gefallen waren. In dem "Report über die Abwehr des Aufruhrs und die Niederschlagung der konterrevolutionären Rebellion", den der Pekinger Bürgermeister Chen Xitong - mittlerweile wegen Korruption im Gefängnis - am 6. Juli 1989 veröffentlichte, ist von mehr als 3 000 Verwundeten und mindestens 200 Getöteten, 36 davon Studenten, die Rede. Diese Zahlen dürften viel zu niedrig angesetzt sein. Aber schon sie machen klar, daß die Repression sich nicht in erster Linie gegen die Studenten richtete, sondern gegen andere - insbesondere gegen die Einwohner von Peking, die sich den anrollenden Panzern in den Weg stellten, und gegen die Arbeiter, deren Streiks die wahre Bedrohung für die Bürokratie darstellten.

Bei den Gedenkfeiern dieses Jahres war von der wirklichen Geschichte des kurzen Pekinger Frühlings nichts zu spüren. In der chinesischen Hauptstadt fiel eine öffentliche Trauerfeier ganz einfach aus. Lediglich zwei Demonstranten fanden den Weg auf den Platz des Himmlischen Friedens. Der eine spannte seinen mit der Parole "Erinnert euch an die Studentenbewegung" verzierten Regenschirm auf, der andere warf Flugblätter in die Luft. Dann wurden sie verhaftet - wie schon viele andere in den Tagen vor dem 4. Juni. Die Studenten hatten zuvor wegen der Nato-Bombardierung der chinesischen Botschaft in Belgrad den Hauptfeind in den USA entdeckt und sich am Nationalismus berauscht. Ansonsten sind sie mit dem Aufbau ihrer höchst ungewissen Karrieren beschäftigt.

Die westliche Mystifikation des Pekinger Massakers wurde unterdessen im "Freedom Park" in Arlington im US-Bundesstaat Virginia auf die Spitze getrieben. Bei der Tiananmen-Gedenkveranstaltung wurde eine Statue enthüllt: die "Göttin der Demokratie" - Symbol für die makabere Symbiose von wahnhaftem Glauben an übersinnliche Wesen und undeutlichen Erinnerungen an eine politische Form, die sich längst aufgelöst hat zugunsten der Herrschaft der neuen Warlords.