Der Heilige Geist von Krakau

Wenn Papst Johannes Paul II. kommt, versinkt ganz Polen im Freudentaumel

Die Reise von Papst Johannes Paul II. durch sein Geburtsland krönt sein Lebenswerk und zeigt den Weg ins nächste polnische Jahrtausend. Im Papsttaumel sind sie auf einmal alle wieder eins: die polnische Gesellschaft, Kirche, Staat. Keiner wage, es Personenkult zu nennen, was man in Polen mit dem Oberhaupt der katholischen Kirche treibt. Diesen Vorwurf mit der tief empfundener Papst-Verehrung der Polen in Verbindung zu bringen, ist, nach hiesigen Begriffen, kränkend und dumm. Auf Johannes Paul II. läßt man nichts kommen.

Wenn er "nach Hause" zurückkehrt - und alle fürchten, daß dies seine letzte Reise ist -, versinkt ganz Polen in Freudentaumel. Alles andere verlor in den Tagen zwischen dem 5. und 17. Juni jede Relevanz. In den Medien rücken die Kosovo-Berichte in den Hintergrund, seiten- und kanalweise werden statt dessen der Papst-Auftritt transmittiert und repetiert, nonstop und mit viel Gefühl.

In den Städten wehen Papst- und Polen-Fahnen, Hunderte von Papst-Bildchen grüßen in den Fenstern, sexistische (oder was dafür gehalten wird) Werbung wird überklebt und der Alkoholverkauf tagelang verboten. Sogar telefonieren kann man nur noch mit dem Heiligen Vater (mit Papst-Telefonkarten).

Menschenmassen geraten in Bewegung. Entlang der Straßen zur Kirche in Krakau haben sich schon Stunden vor der Ankunft Johannes Pauls II. Hunderttausende Menschen versammelt. Vor freudiger Erwartung knistert die Luft, es dampft vom Menschen und dunstet modrig vom zertrampelten Gras. Sobald ein Auto in der Ferne nur erahnt wird, entladen sich verfrühte Begrüßungsschreie, überschlagen sich die Stimmen in Huldigungsgesängen.

Als sich das erleuchtete Papamobil dann tatsächlich nähert, der Papst sein Krakau grüßt, ist der Jubel unbändig. Willkommen zu Hause, es lebe der Papst! skandiert der stimmenstärkste Fanclub - die Jugend. Kinder und Frauen werden gewuchtet, schwenken mit tränennassen Augen ihre Wimpel und Vita-Papa-Hüte. Das Singen und Rufen hört nicht eher auf, als bis der Papst ans Fenster tritt und seinen Gute-Nacht-Schwank zum besten gibt.

Er ist einfach ein großer Pole, sagen die meisten. Ein toller Typ, hochgeachtet wegen seiner Intelligenz, seines ultramonatanen Humors und seiner historischen Verdienste. Er ist der Inbegriff polnischer Größe, seit er 1979 bei seinem ersten Besuch die Worte aussprach: "Möge Dein Geist kommen und das Antlitz der Erde, dieser Erde, erneuern."

Er hat damit der polnischen antikommunistischen Bewegung und den blocklösenden Veränderungen in Europa einen hilfreichen Schub gegeben. Viele Stationen seiner diesjährigen Reise sind Stationen zur Rekapitulation dieses heldenhaften solidarischen Akts. Seine Anhänger feiern das 20jährige Jubiläum der polnischen Solidarnosc und zehn Jahre souveränes demokratisches Polen in einem und beleben damit das gemeinsame heroisch-messianische Geschichtsbewußtsein.

Weniger glorreiche Ereignisse und die Tatsache, daß außer dem polnischen Heldentum auch noch andere Ereignisse nötig waren, um die Berliner Mauer zu stürzen, bleiben unerwähnt. Es ist aber nicht nur das nationale Happening, das die Mengen so verzückt. "Wir sind katholisch!" sagt man und gibt zu verstehen, daß Atheisten davon eben keine Ahnung hätten.

Die Massenaufläufe um den Papst sind auch Ereignisse religiöser Erweckung, eine Pilgerreise zum sakralen Zentrum Papst. Pilgern, so sagt der Religionssoziologe Andrzej Wojtowicz, ist ein typisches Instrument von Religiosität in monolithisch-katholischen Gesellschaften. Es ist ein kulturelles Massenschauspiel, das mit symbolischen Handlungen operiert und den einzelnen durch Annäherung an das Heilige religiöse Erneuerung erleben läßt.

Ohne Papst ist die Veranstaltung aber halb so wild und auch nicht so richtig glaubwürdig. Anderthalb Millionen Menschen unter einem Meer von Regenschirmen, naß und müde von durchwarteter Nacht im Nieselregen, erstarren in schrecklichem Schweigen, als die Lautsprecher stottern, der Papst sei krank und komme nicht. Es gießt, die Pilgerpapphocker und Pilgerpappkaleidoskope sind durchweicht, die Kinder greinen, und eine halbe Million Enttäuschter wälzt sich vom Gelände der Krakauer Freiluftmesse. Die verbliebene Million vollzieht eisern im Schlamm kniend die Messe und hört ergeben die Verlesung seiner Worte.

Nach Erhebungen des Meinungs- und Marktforschungsinstituts Pentor glauben 72 Prozent der Polen, daß der Papst in seinem Land mehr angebetet als gehört wird. Die Befürworter eines liberalen Katholizismus beklagen daher, daß die Lehren Johannes Pauls II. nur teilweise rezipiert würden - wo sie an das Gemeinschaftliche, das Volk im Glauben appellierten. Aussagen dagegen, die auf individuelle Vertiefung und intellektuelle Fundierung des Glaubens zielen, stießen auf taube Ohren. Besorgte Katholiken befürchten daher die Stagnation in heiliger Routine und äußerlichem Ritual, während sich die Lebenseinstellungen (meistbemühtes Beispiel: das Sexualleben) von den deklarierten Glaubensprinzipien weiter entfernten.

Doch solange Johannes Paul II. die Stimme eines integralen, auf überlieferte Werte bauenden Katholizismus und damit Legitimationsquelle der polnischen Kirche ist, bleiben die Brüche zwischen katholischen Fundamentalisten im Umfeld des Radio Maria und den "liberalen Katholiken" nur notdürftig verdeckt. Die vielen neugebauten Kirchen, oft Prestigeobjekte einzelner Bischöfe oder Gemeinden, stoßen kaum auf Kritik, ebenso wie die pompöse Zelebrierung des sechsten Papstbesuchs bis zur Abgötterei. Es gibt über 100 Denkmäler, die Johannes Paul II. ehren, darunter eine Kapelle in den Masuren zum Gedenken an seine Fisch- und Paddeltouren.

Nicht nur die Kirche, auch die weltliche Macht übertrifft sich in eilfertiger Ehrerbietung. Woiwodschaften verausgaben ihr Budget für Papstgeschenke und die Koordination der Massenansammlungen. Politiker der Mitte-Rechts-Regierung wie der postkommunistischen Opposition berufen sich auf die katholische Soziallehre und die päpstlichen Forderungen nach gesellschaftlicher Solidarität und Nächstenliebe, nach einem Samariter-Staat des Gemeinwohls.

Sie versäumen keine Gelegenheit, sich mit dem Papst zu zeigen. Und das nicht allein aus politischer Opportunität, auf Stimmenfang in einer Gesellschaft, in der katholische und (post)sozialistische Überzeugungen großen Rückhalt haben. In Polen ist es nicht anstößig, daß am Platz des Parlamentspräsidenten der Papstthron aufgestellt wird und der Heilige Vater von dort aus dem demokratischen Bemühen aller Couleur moralische Empfehlungen gibt.

In gewissem Maße ist der Papst auch Legitimationsquelle der polnischen Politik seit 1989. Er verkörpert die moralischen Werte des neuen Polen. Wenn er spricht, weiß man wieder, worauf es ankommt. An ihn glaubt man. Und mit ihm hofft man: Seine Anwesenheit konnte für einen Moment die Vision einer geeinten Gesellschaft zeigen, eines sozialen Friedens, der im Alltag der zunehmend gespaltenen Transformationsgesellschaft ständig strapaziert wird. Der Papst vermittelt das Gefühl von Einheit und Gemeinsamkeit. Solange er da ist.