Atomkraft - »nur mit uns«

Während die rot-grüne Regierung den Konsens im Interesse der Industrie sucht, plant die Anti-AKW-Bewegung neue Blockadestrategien

Micha Brumlik hatte die Hoffnung schon nach dem ersten Schlagabtausch fast aufgegeben. Nur noch mit dem Vokabular des Vulgärmarxismus sei beschreibbar, kommentierte der Frankfurter Grünenpolitiker im Januar dieses Jahres, wie sich die Stromkonzerne in der Auseinandersetzung um die Atompolitik durchsetzten.

Heute sind die ersten Konsensgespräch längst Geschichte, und die Verhandlungen um die Zukunft der Atomkraftwerke weiter fortgeschritten. Dennoch sind selbst hartgesottene Kritiker und Kritikerinnen der rot-grünen Politik darüber erstaunt, wie eindeutig die Koalition die Interessen der Wirtschaft bedient.

Dabei spricht schon das organisatorische Vorgehen für sich. Mit Werner Müller ist ein ehemaliger Atommanager Verhandlungsführer der Regierung, der ein Konzept entwickelt hat, wie unter dem Label "Ausstieg" möglichst alle Wünsche der AKW-Betreiber erfüllt werden können. Das vergangene Woche zwischen den Koalitionspartnern diskutierte "Eckpunkte-Papier" ist zwar bei der Konsensrunde im Kanzleramt so noch nicht beschlossen worden, bleibt aber weiter Grundlage der Debatte.

Der parteilose Wirtschaftsminister hatte eine maximale Laufzeit der Kernkraftwerke von 35 Jahren vorgeschlagen. Die Branche zeigte sich öffentlich empört. Intern wurde diese Frist freilich rundweg positiv bewertet. Dafür gibt es einen einfachen Grund: Bisher existiert weltweit kein einziger Reaktor, der wirklich dreieinhalb Jahrzehnte durchgehalten hat. Auch würden nach diesem Modell innerhalb der nächsten zehn Jahre lediglich die zwei Altreaktoren Stade und Obrigheim vom Netz gehen. Alle anderen Kraftwerke könnten munter weiterstrahlen und Atommüll und satte Gewinne produzieren. Der so insgesamt 311 weitere Reaktorbetriebsjahre umfassende "Ausstieg" würde demnach bis zum Jahr 2024 dauern.

Weil den Konzernen die Entscheidung dennoch so schwer fällt, werden im "Eckpunkte-Papier" noch eine fast endlose Reihe weiterer Forderungen der Industrie erfüllt: Die Auslaufzeit soll nur in einem öffentlich-rechtlichen Vertrag festgeschrieben werden. In einer gleichzeitig geplanten Atomgesetznovelle wird von 40 Vollast-Jahren, also teilweise über 50 Kalenderjahren, ausgegangen. Die Betreiber können den Vertrag einseitig kündigen. Auch die die Einwirkungsmöglichkeit der Atomaufsicht soll eingeschränkt werden. Die Einspeisung regenerativer Energien will Müller langfristig auf zehn Prozent begrenzen, die Atommülltransporte sollen noch 1999 wiederaufgenommen werden.

Ebenso erlaubt das Papier die Wiederaufarbeitung (WAA) für weitere fünf Jahre. An allen Reaktoren ist der Bau von Castor-Hallen geplant. Werden diese nicht rechtzeitig zum WAA-Stopp fertig, womit angesichts des geplanten Widerstandes zu rechnen ist, darf wieder nach Gorleben und Ahaus transportiert werden. Das Endlager für schwach- und mittelaktiven Müll im Schacht Konrad will Müller genehmigen lassen. Der Salzstock Gorleben wird weiter untersucht, die Pilotkonditionierungsanlage (PKA) soll in Betrieb gehen.

Von den im Koalitionsvertrag vereinbarten atompolitischen Rahmenbedingungen ist im Müller-Papier kaum etwas übriggeblieben. Die Grünen, im Wahlkampf noch mit der Parole "Atomausstieg - nur mit uns" angetreten, entfernen sich nun auch in diesem Punkt mit rasanter Geschwindigkeit vom einst geforderten Sofortausstieg. Zwar waren sie vor der Wahl davon ausgegangen, daß mit einem Ausstiegsgesetz die entschädigungsfreie Stillegung aller AKW innerhalb von acht Jahren zu schaffen ist, im Koalitionsvertrag wurden dann aber keine Ausstiegsfristen festgelegt.

Mittlerweile ist die Partei bei der Forderung angekommen, die sogenannten Restlaufzeiten so zu berechnen, daß pünktlich vor dem nächsten Urnengang wenigstens ein Altreaktor als Wahlkampfgeschenk für die kleine Regierungspartei abgeschaltet wird. Auch für den Fall einer Niederlage ist vorgesorgt. So stellte der energiepolitische Sprecher von CDU/CSU, Horst Seehofer, fest, daß mit dem Konzept nach einem neuerlichen Regierungswechsel für seine Partei weiterhin alle Optionen offen blieben.

Das massive Abrücken von bisherigen Forderungen wird von den Atompolitikern und -politikerinnen der Grünen natürlich nicht als Niederlage beschrieben. Unter starken Rechtfertigungsdruck geraten, müssen sie beweisen, daß ihr politisches Handeln Früchte trägt. Schließlich war dieses "Nur mit uns" auf dem Wahlplakat nicht nur Werbeslogan, sondern als politische Schlußfolgerung aus 25 Jahren Auseinandersetzung um die Atomenergie und 20 Jahren grüner Partei tatsächlich ein Hoffnungszeichen. Viele Mitglieder erhofften sich nach den außerpalamentarischen Niederlagen, "von oben" ließe sich etwas verändern. So nahmen sie Joseph Fischer mit seinem Worten ernst: "Es reicht nicht mehr, am Bauzaun zu rütteln, wir müssen handeln." Mit dem grünen Frontmann hatte auch die Basis akzeptiert, daß ein Ausstieg nur über eine Regierungsbeteiligung durchzusetzen sei.

Folgerichtig müssen die Protagonisten und Protagonistinnen, soll die Sinnlosigkeit ihres Handelns sie nicht selbst erschlagen, alles, was geschieht, als Erfolg verkaufen. So wird aus einer Restlaufzeit, die - selbst wenn sich die Grünen mit ihren Forderungen durchsetzen - länger als die technische Lebenserwartung der meisten Reaktoren ist, der "Einstieg in den Ausstieg". Aus der Planung von neuen Atomanlagen - den Castor-Hallen an den AKW selbst - wird der "verantwortungsvolle Umgang mit dem Atommüll", obwohl genau diese Zwischenlager dazu führen werden, daß die Reaktoren weiter laufen und neue strahlende Abfälle produzieren.

Nun könnte man die Grünen ob ihrer unglücklichen Rolle bedauern, doch dazu haben die anstehenden Entscheidungen zu weitreichende Folgen. Schließlich entsteht selbst bei atomkraftkritischen Menschen der Eindruck, es gehe eben nicht schneller. Der Vulgärmarxismus schlägt um in Fatalismus: Gegen die Macht der Konzerne kann selbst eine ausstiegswillige Regierung nichts machen. Folglich wird als Erfolg wahrgenommen werden, wenn überhaupt ein "Konsens" mit den Betreibern zustandekommt, auch wenn dieser Vertrag all das erlaubt, was die Grünen zu Oppositionszeiten bekämpft hatten.

Aber während viele aus der Bewegung zunächst abgewartet haben, wie sich die Dinge in Bonn entwickeln, waren andere nicht untätig: AKW-Gegner und

-Gegnerinnen entwickelten ein Konzept, wie die Reaktoren innerhalb kurzer Zeit abgeschaltet werden müssen, ganz ohne Konsens, ohne Regierungspolitik und ohne Schadenersatz. Mit einer "Verstopfungsstrategie" wollen sie den Umstand ausnutzen, daß durch den immer noch anhaltenden Transportestopp die Atommüll-Lagerbecken an den Kraftwerken randvoll sind.

Das Kalkül: Gelingt es durch viele Tausend Blockierende, beim ersten geplanten Transport einen großen Polizeieinsatz zu provozieren, so werden weitere Atommüllabfuhren verhindert, weil der Staat zu wenig Personal hat, um diese durchzusetzen. Die neue Strategie ist attraktiv. Schließlich ermöglicht sie vielen, aktiv zur Stillegung beizutragen. Die Aktivisten und Aktivistinnen müssen sich nur zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort aufhalten, beispielsweise auf einer Schiene vor einem AKW.

Gefordert ist dann die grüne Partei: Wie wird sie sich verhalten, wenn die beiden Ausstiegskonzepte - das Konsensprojekt der Regierung und die Verstopfungsstrategie der Bewegung - aufeinandertreffen? Die rot-grüne Regierung muß die Transporte genehmigen, sie muß die Polizeieinheiten schicken und öffentlich rechtfertigen, warum der Weiterbetrieb mit staatlicher Brachialgewalt durchgesetzt werden soll.