Im Universum der Phrasen

Der "Werbekongreß '99" beschäftigte sich mit "Werbung in der Krise": Pannen als Chance für Kreative

Lange Zeit war unklar, ob das Universum sich nach dem Urknall einfach immer weiter ausdehnt, oder ob es sich irgendwann qua Gravitation wieder zusammenzieht und in einem großen Kollaps endet. Schon Einstein hatte die Idee, daß sich diese Frage anhand einer "kosmologischen Konstante" entscheiden lasse, die er jedoch alsbald wieder als pure Eselei verwarf.

Voreilig, wie sich herausstellen sollte. Im letzten Jahr haben zwei Wissenschaftlerteams unabhängig voneinander den Wert dieser Konstante ermittelt und meinen, damit auch die Frage nach der Zukunft des Kosmos schlüssig beantworten zu können. Demnach dehnt sich das Universum sehr wohl immer weiter aus, sogar mit wachsender Geschwindigkeit, und macht keinerlei Anstalten, irgendwann in einem großen Crash zu vergehen. Daraus Rückschlüsse auf die Zukunft des Kapitalismus zu ziehen, ist vielleicht etwas gewagt, obwohl gewisse Parallelen unverkennbar sind.

Die kosmologische Konstante des Kapitalismus ist seit Marx der tendenzielle Fall der Profitrate. Wie sich jene hinterrücks bewahrheitete, erwies sich diese bis heute als Hirngespinst. Vor diesem Hintergrund erscheint auch jenes Krisenszenario, das den baldigen Kollaps des Kapitalismus mit der anschließenden Option auf etwas ganz anderes in Aussicht stellt, als reichlich unwahrscheinlich. Diejenigen, die immer noch glauben, der Kapitalismus sei so etwas wie der Todesplanet bei Star Wars, und es komme nur darauf an, den Luftschacht zu treffen, haben ein offensichtliches Problem in der Argumentation. Machen wir uns nichts vor: Der Kapitalismus wird sobald nicht zusammenbrechen - und wenn doch, wird er durch einen neueren, noch besseren ersetzt werden.

Auch der Begriff der Krise hat dadurch einiges an Charme eingebüßt, den er ehedem für die Linke besaß. Krise im Jargon der Wirtschaft meint heute oft nur mehr die Krise einzelner Unternehmen und hier Einbrüche auf seiten der immateriellen Vermögenswerte, vulgo: Imageschäden. Die neuralgische Stelle der Konzerne ist im symbolischen Kapitalismus noch vor der intakten Bilanz die intakte Aura. In gleichem Maße, wie sich die öffentliche Kritik an der Wirtschaft von der Lohnquote auf den Verbraucherschutz verlagert, wie der kritische Verbraucher den Proletarier abgelöst hat, häufen sich diese spektakulären und ebenso schnell wieder vergessenen Imagekrisen, die gern die Form hysterischer Exempel annehmen.

Die Greenpeace-Proteste gegen Shell und die geplanten Versenkung der Bohrplattform Brent Spar in der Nordsee waren hierfür paradigmatisch. Danach folgten der Elchtest bei Mercedes Benz, Windows 98, die Pannenserie bei der Bahn, in jüngster Zeit die belgischen Dioxin-Eier und was sonst noch in dem vermaledeiten Benelux-Staat an Skandalnahrung produziert wird. Nicht, daß es nicht die Richtigen träfe; nicht, daß nicht eine gewisse Häme durchaus angebracht wäre, wenn man Giganten auch einmal straucheln sieht - vor allem bei Microsoft und der A-Klasse dürfte dieses Motiv im Vordergrund gestanden haben. Problematisch ist, daß die medial verstärkten Reaktionen oft vom jeweiligen Anlaß kaum gedeckt werden, wenn aus allem Skandalösen, das die Wirtschaft täglich verursacht, exemplarisch ein Skandalon herauspräpariert und zum Gegenstand einer Kampagne gemacht wird.

Leicht lassen sich derartige "Proteste", das idiosynkratische, temporär aufflackernde Unbehagen gegenüber einer speziellen Marke, auf der Ebene entkräften, wo sie sich entzünden: auf der symbolischen. Die Bestie Öffentlichkeit ist bekanntlich hochgradig vergeßlich und durch Kosmetik leicht zu beeindrucken. Noch ist das Instrumentarium dafür nicht besonders ausgereift, wie die grob ungeschickten Reaktionen einiger der betroffenen Konzerne belegen. Die klassisch arrogante Politik der PR-Abteilungen - ignorieren und, wenn das nicht mehr hilft, dementieren - hat die Krisen oft erst richtig entfacht. Der größte Turnschuhhersteller der Welt, Nike, mußte erst massive Umsatzeinbußen hinnehmen, bevor er auf die "Sneaker wars" reagierte, gemeint war die gewaltsame Praxis, mit der sich unterprivilegierte Ghetto-Kids die überteuerten Schuhe beschafften.

Die besänftigende Reaktion bestand dann nicht etwa in einer Preissenkung, sondern in einer neu eingerichteten "Hall of fame" auf der Nike-Homepage, "Unseren farbigen Brüdern" gewidmet. Jüngstes Beispiel bietet der belgische Coca-Cola-Ableger, dem der Spiegel im Umgang mit seinen verseuchten Getränkeflaschen einen "PR-GAU" attestiert. Hier sind also die subtileren Methoden der Werbung gefragt, die bislang nur selten zum Einsatz kamen.

Auf dem "Werbekongreß '99", der vor zwei Wochen in der Berliner Hochschule der Künste stattfand, wurde das Thema "Werbung in der Krise" erstmals ausgiebig erörtert und der angehende Werbenachwuchs konnte schon mal pro forma seine Krisentauglichkeit unter Beweis stellen. "Krise als Chance" meinte hier nicht nur, daß sich jede aufgeflogene Schweinerei am besten als Auslöser eines Selbstreinigungsprozesses verkaufen läßt, sondern ganz konkret, daß hier noch unerschlossene Betätigungsfelder für unerschrockene Kreative schlummern.

Endlich kann die Werbung, oft gescholten als "oberflächlich", "parasitär" und Schlimmeres, ihre seelsorgerischen Qualitäten unter Beweis stellen und zeigen, daß sie auch mal ernst sein kann, daß auch sie über ein Gewissen verfügt. "Wie können gut situierte Mitglieder der Gesellschaft so dumm sein, viel Geld auszugeben, um sich ihren Glauben an die Dummheit anderer zu bestätigen?" fragt Niklas Luhmann mit Blick auf die Werbung. Die Antwort lautet: Sie tun es einfach - und fahren gar nicht mal schlecht damit. Gerade in Krisensituationen scheint das Double-bind zwischen Konzernen und Kunden bestens zu funktionieren.

Der zynische Verbraucher, der eh durch nichts mehr zu schocken ist, spielt die Rolle des Empörten, obwohl er wie der Konzern insgeheim um die Nichtigkeit des Anlasses weiß. Dafür will er mindestens die Genugtuung verbuchen, den Konzern einmal zerknirscht und reumütig zu sehen. Auf dieser Basis läßt sich arbeiten.

"Wenn nichts mehr hilft, hilft auch Werbung nichts", führt Wolfgang Nickel, Vorsitzender des Zentralausschusses der Werbung, auf dem Kongreß aus, etwa nach dem Bahnunglück von Eschede, wo die Bahn nur noch ganzseitige Traueranzeigen schalten konnte, die in der Tat einen zynischen Beigeschmack hatten. In allen anderen Fällen sei Werbung das probate Mittel zur Schadensbegrenzung. Wenn, wie Nickel meint, Werbung "die erogene Zone der Marktwirtschaft" ist, dann wagt sich Krisen-Werbung auf das Neuland des Sadomasochismus vor.

Wie das in der Praxis aussehen kann, hat die Mercedes-Agentur Springer & Jacoby mit dem umgekippten A-Klasse-Benz vorgemacht: Nach anfänglicher Funkstille begann man zunächst kleinlaut, das über eineinhalb Jahre im voraus lancierte Image wieder aufzubauen. Mit Hilfe selbstironischer Anzeigenmotive mit Boris Becker ("Ich habe aus meinen Rückschlägen mehr gelernt als aus meinen Erfolgen") wurde schließlich sogar noch ein Markterfolg daraus, und Mercedes Benz hat laut Umfragewerten eindeutig an "Menschlichkeit" gewonnen. So geht's also.

Wie man hingegen mit strukturellen Dauerkrisen umgeht, macht seit Jahren die Tabakindustrie vor, die über die zaghaften Gehversuche der Neuankömmlinge im Krisengebiet nur schmunzeln kann. Was Christopher Buckley in seinem satirischen Roman "Danke, daß Sie hier rauchen", im Original von 1994, noch ironisch antizipierte, ist längst gängige Praxis, und die hiesige Kampagne "Cool Kids Can Wait" nur ein fahler Vorgeschmack dessen, was in den USA längst Standard ist.

So erteilt etwa der amerikanische Tabakkonzern Brown & Williamson auf seiner Homepage unter dem Slogan: "A reasonable company in a controversial business" Anleitung, wie mit dem Rauchen ganz aufzuhören sei. Die Komplizenschaft mit dem Verbraucher, die die Werbung immer anpeilen muß, wird angesichts der Imagekrise zur verschwörerischen Kumpelei auf höherem Niveau. Oder, wie Luhmann schreibt: "Die Werbung sucht zu manipulieren, sie arbeitet unaufrichtig und setzt voraus, daß das vorausgesetzt wird." Beziehungsweise: Niemand will mit hoher Stimme becirct werden, aber alle wollen beim Kreidefressen zusehen.

So lauten die Spielregeln, damit es im robusten Kapitalismus nicht langweilig wird: Jeder muß einmal die Arschkarte ziehen. Auf absehbare Zeit wird der Begriff der Krise völlig getilgt sein, und es wird von Chancen-Symptomen und Chancen-Erscheinungen nur so wimmeln. Daß die neue Art der Krisenwerbung nicht allein auf den Bereich der Wirtschaft beschränkt bleibt, versteht sich von selbst.

Wie sonst erklärt sich, daß Gerhard Schröder nach der Europa-Wahl-Schlappe nichts Eiligeres zu tun hatte, als, den Opel-Werbeslogan paraphrasierend, zu bekennen: "Wir haben verstanden"? Die unter Krisengesichtspunkten neu errechnete kosmologische Konstante der Werbung besagt unter anderem, daß sich das Universum der Phrasen mit wachsender Geschwindigkeit immer weiter ausdehnen wird, anstatt irgendwann mit einem kläglichen Seufzer in sich zusammenzufallen.