Miniaturwelt hinter Gittern

Die politischen Gefangenen sind ein Schlüsselthema im nordirischen Friedensprozeß

Bei einem Besuch Belfasts fällt es schwer, die zahlreichen Wandbilder der Anhänger paramilitärischer Organisationen zu ignorieren. Eines der am häufigsten erwähnten Themen sind dabei die politischen Gefangenen, oft als Helden in ihren Gemeinden stilisiert. Der Umgang mit den je nach politischer Anschauung "Terroristen" oder "Kriegsgefangene" Genannten ist ausschlaggebend bei der Bewertung jeglichen Versuchs, den jahrzehntelangen Bürgerkrieg dauerhaft zu beenden.

Man schätzt, daß über 25 000 Menschen im Laufe der "troubles" wegen eines "terroristischen Vergehens" verurteilt worden sind. Deren Familienkreis eingeschlossen, hat zumindest jeder fünfte Bewohner Nordirlands direkte Erfahrungen mit staatlicher Internierung. "Die 'Jungs' wieder nach Hause zu bekommen, ist somit von elementarer Bedeutung für viele Familien, die einen entscheidenden Einfluß auf Erfolg oder Mißerfolg des Friedensprozesses ausüben werden", stellt eine Friedensstudie der Universität Bradford fest.

Ende 1994 forderte die unabhängige Gefangenenorganisation NIACRO, den besonderen politischen Charakter dieser Gefangenen anzuerkennen. Durch die getrennte Rechtsprechung in sogenannten Diplock-Gerichten ohne Schöffen ließe sich der offensichtliche Unterschied zwischen politisch motivierten und "gewöhnlichen anständigen Kriminellen" nicht mehr verleugnen.

Während den Verhandlungen zum Belfaster Friedensabkommen von Ostern 1998 erklärte die IRA-nahe Sinn Féin-Partei schließlich, schließlich das Thema entscheide über Erfolg oder Mißerfolg des Agreements: "Die Freilassung unserer politischen Gefangenen ist notwendige Voraussetzung für den Friedensprozeß", verkündete ihr Vorsitzender Gerry Adams.

Gegen den starken Widerstand der konservativ-unionistischen Parteien wurde der umstrittene Punkt schließlich in das Abkommen aufgenommen: "Beide Regierungen werden Verfahren für die vorzeitige Freilassung von Gefangenen in Kraft setzen", heißt es dort. Eingeschlossen in diese Regelung sind alle Gefangenen, die für eine vor dem 10. April 1998 begangene, speziell aufgeführte Straftat mit "terroristischem Hintergrund" verurteilt worden sind und deren paramilitärische Organisationen sich in einem offiziell anerkannten Waffenstillstand befinden.

Der Gefangene kann den Antrag auf vorzeitige Haftentlassung an eine unabhängige Kommission stellen. Wird diesem stattgegeben, wird ihm ein konkretes Entlassungsdatum genannt. Dies ist meist nach einem Drittel der gegebenen Haftstrafe, bei lebenslänglich Verurteilten zwei Drittel. Grundsätzlich sind alle Freilassungen auf Bewährung und können jederzeit von der britischen Regierung widerrufen werden.

Bis vergangene Woche wurden schon 277 Gefangene seit letztem September, dem Start des Freilassungsprogramms, vorzeitig entlassen. Bis zum 28. Juli 2000 soll das Programm abgeschlossen sein und die verbleibenden Gefangenen, deren Antrag genehmigt wurde, sollen freigelassen werden.

Die Reaktionen der betroffenen paramilitärischen Organisationen sind unterschiedlich: "Auf keinen Fall werden wir uns mit den Freilassungen erpressen lassen", warnte die protestantisch-loyalistische Ulster Volunteer Force (UVF). Traditionell stellen die Gefängnisse für Loyalisten eine schwere Belastungsprobe für ihre Treue zur britischen Krone dar. Ein ehemaliger Gefangener erzählt: "Republikaner haben dieses Problem nicht, ihre Familien sehen sie als Helden an. Ich kämpfte dafür, britisch zu bleiben, und doch sperrten mich Männer ein, die selbst die Krone auf ihrer Uniform trugen."

Martin Snerdan, Vorsitzender des loyalistischen Gefangenenprojektes EPIC, das ehemaligen Gefangenen Unterstützung bei der Reintegration in ihre Gemeinden bietet, definiert "Loyalität" mittlerweile anders: "Im Gefängnis kommen die Leute dazu, den höheren Zusammenhang des Konfliktes hier zu begreifen. Sie sehen sich nun eher als loyal zu ihrer eigenen Gemeinde, für diese sind sie bereit, Opfer zu erbringen. Die Autorität des Staates wird dabei immer mehr hinterfragt."

Anders dagegen verhält es sich auf nationalistischer Seite. Die Solidarität mit den politischen Gefangenen ist dort traditionell groß. "Es sind nicht die, die am meisten zufügen können, sondern die, die am meisten leiden können, welche siegen werden", verkündete schon 1920 ein IRA-Mitglied, bevor es nach 73-tägigem Hungerstreik starb.

Der politisch-religiöse Konflikt wird fast wie einer Miniaturwelt in den nordirischen Gefängnisse ausgetragen. Typisches Beispiel hierfür ist das nahe Belfast gelegene Maze Prison. Hier befindet sich die Mehrheit von Nordirlands politischen Gefangenen, welche in den ersten Jahren des Konfliktes noch als Kriegsgefangene betrachtet wurden. Als ihnen 1976 ihr politischer Status aberkannt wurde, weigerten sich Hunderte von republikanischen Gefangenen, Anstaltskleidung zu tragen sowie ihre Zellen zum Waschen zu verlassen. Im März 1981 trat Bobby Sands in unbefristeten Hungerstreik. Mit ihm starben zehn weitere Gefangene, bis der Streik schließlich erfolglos abgebrochen wurde.

Der Hungerstreik bildete einen Wendepunkt im bis dahin von Gewalt geprägten Gefängnisalltag: Bald gelang es loyalistischen Häftlingen, eine Unterbringung getrennt von ihren katholischen Mitgefangenen zu erzwingen. Die so ermöglichte interne Disziplin der einzelnen Gruppen ermöglichte großen Einfluß auch auf das Wachpersonal: Mittlerweile können sich die Gefangenen 24 Stunden täglich frei in ihrem Flügel bewegen. Sicherheitsauflagen werden kaum mehr beachtet. So gelang es Anhängern der militanten republikanischen Splittergruppe INLA Ende Dezember 1997, Billy Wright, den Führer der loyalistischen Splittergruppe LVF (Loyalist Volunteer Force), in der Haft zu erschießen.

Auch wenn das Maze-Gefängnis nach Beendigung der Freilassungen wahrscheinlich geschlossen werden wird, ist das grundsätzliche Problem der Unterbringung politisch motivierter Straftäter damit noch nicht gelöst. Die nun benutzte Haftanstalt Maghaberry, in der die Gefangenen nicht nach politischer Zugehörigkeit getrennt untergebracht sind, scheint wegen der steigenden Gewalt schon den Ruf des "gefährlichsten Gefängnisses Nordirlands" übernommen zu haben.

Die Mediendebatte über die Freilassungen basiert vor allem auf Appellen der Verwandten von Opfern: Als Weihnachten letzten Jahres 170 republikanischen und loyalistischen Gefangenen ein zehntägiger Heimgang gewährt wurde, kettete sich eine junge Frau an die Gefängnistore des Maze-Gefängnisses. Sie protestierte damit gegen die Freilassung jenes Mannes, der 1993 bei einem Bombenattentat ihre Eltern tötete.

Die Freilassung der politischen Gefangenen ist notwendige Voraussetzung für eine dauerhafte Lösung geworden. Mittlerweile muß auch die britische Regierung anerkennen, daß es sich bei den Verhafteten beider Seiten um mehr als nur "Terroristen" handelt.

Auch wenn sich die Tory-Opposition in Westminster immer wieder für einen vorübergehenden Stopp der Freilassungen einsetzt und diese an die erfolgreiche Bildung der Exekutive in Stormont gebunden sehen will, ist es wahrscheinlich, daß die Freilassungen im Sommer nächsten Jahres beendet werden können. Trotzdem will noch keiner richtig an die endgültige Schließung der Gefängnisse glauben - in Nordirland ist man für den erneuten Ausbruch von Gewalttaten gerüstet. Trotz aller Hoffnungen auf die erfolgreiche Durchführung des Karfreitagsabkommens wird es noch sehr lange dauern, bis der ständige Ausnahmezustand in Nordirland beendet wird.