Out of Godesberg

Eichels Haushaltskürzungen und die Folgen: Auf der Suche nach dem neuen Selbstverständnis landet auch der DGB in der Neuen Mitte

Nicht nur die Basis murrte. Aktionen gegen die "Grausamkeiten der Regierung" müßten her, schimpfte in der letzten Woche der baden-württembergische IG Metall-Bezirkschef Berthold Huber. Die Gewerkschaften dürften nicht länger zu "Kronzeugen des Abgesangs" auf die Bundesregierung werden. Für September kündigte Huber eine Großdemonstration an. Adressat des Protestes soll aber nicht die Regierung, sondern sollen die Unternehmer sein - schließlich müßten die Gewerkschaften aufpassen, daß die notwendige Kritik an der Bundesregierung nicht "von denjenigen politischen Kräften vereinnahmt wird, die den Regierungswechsel bis heute nicht akzeptiert haben".

Eine Falle, die sich die Gewerkschaften durch ihre offensive Wahlkampfeinmischung im Sommer 1998 selbst gestellt haben. Doch Huber - und mit ihm große Teile der Gewerkschaften - will der Regierung die Treue gar nicht aufkündigen. "Einbinden" heißt das Zauberwort. Und eingebunden sind die Gewerkschaften: in das Räderwerk der Sozialdemokratie - und somit auch das der Regierungspolitik. Nicht umsonst sitzt im SPD-Parteivorstand der Mann, der lange als "Zuschläger" von DGB-Chef Dieter Schulte galt: Wolfgang Uellenberg-van Dawen, bereits zu Schultes Zeiten als Thyssen-Betriebsratsvorsitzender dessen persönlicher Referent, ist Verbindungsmann zwischen der Bonner SPD-Baracke und der DGB-Zentrale.

So fallen die DGB-Spitzen in ihrem Protest gegen den Sparhaushalt der Regierung denn auch weniger durch klare Positionen als durch politische Unentschiedenheit auf: Einerseits wird er als finanzpolitisch durchdacht, andererseits zumindest in Teilen als sozial ungerecht bewertet. "Wir anerkennen das Bemühen von Finanzminister Hans Eichel, die Erblast der Regierung Kohl abzubauen und die verfügbaren Mittel auf die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit zu konzentrieren", sagte DGB-Chef Schulte vergangene Woche in Düsseldorf. Andererseits aber sei auch nicht einzusehen, warum Vermögende keinen Beitrag zur Haushaltskonsolidierung leisten müßten, während Rentner, Arbeitslose und Beamte zur Kasse gebeten würden.

Abgeschmeckt war die laue Kritik schließlich noch mit ein wenig Sozialbalsam für die Rentner und Erwerbslosen: Das Gebot der sozialen Gerechtigkeit werde auch dadurch verletzt, so Schulte, daß die Rentenanpassung der nächsten zwei Jahre nur der Inflationsrate folgen solle. Ungerecht sei es zudem, wenn die Beiträge von Arbeitslosenhilfeempfängern zur Sozialversicherung nur noch auf Basis der tatsächlich gezahlten Leistungen entrichtet würden. Zudem seien die acht Milliarden Mark Steuerentlastung für die Unternehmer auch völlig überflüssig, da die Arbeitgeber bereits bei den Lohnnebenkosten erheblich entlastet würden.

Das war es dann auch schon. Grundsätzliche Kritik war nicht zu hören. Warum auch - die deutschen Gewerkschaften sind schließlich da angekommen, wo sie schon immer hinwollten: am Trog der Macht. Und wie diese anders erhalten werden soll als durch den Bezug auf die gut organisierten Facharbeiter - Schröders Neue Mitte also -, weiß auch die DGB-Spitze nicht. Bei gut verdienenden Eigenheimbesitzern mit Hang zum Zweitwagen darf eben das "Verständnis dessen, was 'links' ist, ideologisch nicht eingeengt" werden (Blair/ Schröder). Diese Facharbeiterschaft ist allemal bereit, für die Verteidigung ihrer Besitzstände - was per se noch nichts Anrüchiges ist - auf die Straße zu gehen. Im Kern ist sie aber strukturkonservativ und möchte am liebsten alles so belassen, wie es ist.

Am besten ist das in Baden-Württemberg zu beobachten: Eine Hochburg des Auto- und Maschinenbaus, hochorganisierte Gewerkschaften, Häuslebauer, rote Fahnen und CDU-Wähler - das paßt alles zusammen. Es war sicherlich kein Zufall, daß die SPD einige Tage vor Veröffentlichung des Papiers von Tony Blair und Gerhard Schröder die ideologische Begründung lieferte und Schulte flugs erklärte, die Gewerkschaften müßten diese "Veränderungsdebatte" aufnehmen. Vieles sei "diskussionsfähig, manches diskussionswürdig", befand Schulte.

Und diskutiert wird derzeit viel in den Gewerkschaften. Beispielsweise Anfang Juni in der Bildungsstätte der IG Metall in Bad Orb. Der Berliner Politikwissenschaftler Bodo Zeuner legte den Gewerkschaften Antworten in den Mund, die sie sich eigentlich selbst geben müßten. Die Gewerkschaften haben sich schon immer als "politische Organisationen für alle abhängig Beschäftigten" verstanden, erklärte Zeuner. Sie haben nie nur Politik für die Mitglieder gemacht. Auch gab es immer eine Arbeitsteilung zwischen Gewerkschaften und den ihnen verbundenen Parteien: Die Gewerkschaften waren für das ökonomische Alltagsgeschäft, die Parteien für die großen Fragen der Politik zuständig.

Dieses arbeitsteilige System wurde Ende der fünfziger Jahre brüchig: Mit der Verabschiedung des Godesberger Programms war die SPD nicht mehr die Partei der Arbeiterklasse, sondern nahm den Charakter einer Volkspartei an. "Die Gewerkschaften konnten nicht auch noch gleich 'Volksgewerkschaften' werden, etwa so, daß sie nunmehr die Interessen der Arbeitgeber gleichwertig mit denen der Arbeitnehmer mitzuverantworten hätten."

Der Unterschied zum Qualitätssprung vor 40 Jahren liegt nach Zeuners Meinung darin, daß damals die SPD eine linke Volkspartei in der reformistischen Tradition der Arbeiterbewegung werden wollte. Heute dagegen möchte derjenige Flügel, der sich im innersozialdemokratischen Machtkampf gegen Lafontaine durchgesetzt hat, die SPD zu einer modernen Wirtschaftspartei machen, bei den Wählern um eine sozialstrukturell ganz ungenau definierte Mitte werben und sich explizit und demonstrativ aus der lästig gewordenen politischen Tradition der Arbeiterbewegung verabschieden. Blair hat vorgemacht, daß sich damit Wahlen gewinnen lassen; bei ihm ist die Distanz zu den Gewerkschaften ein besonders stolz und deutlich vorgezeigtes politisches Markenzeichen.

"Moderne Sozialdemokraten", so Zeuner, forderten eine Gesellschaft, in der alle Menschen als "Kapital"-Besitzer zueinander in Konkurrenz gesetzt werden, die Verlierer noch mehr verlieren und die Gewinner noch mehr gewinnen. Die schon eingetretene und sich weiter verschärfende Gesellschaftsspaltung sei für sie kein Problem. Sie zielten auf eine Neue Mitte und meinten damit dasselbe, was einst ein FDP-Generalsekretär meinte, als er seine Partei als "Partei der Besserverdienenden" anpries. Deshalb sei es ideologisch konsequent, wenn die FDP-Fraktion des Bundestages das Blair-Schröder-Papier als ihren Entschließungsantrag in den Bundestag einbringe.

Wenn also die Diagnose zutrifft, daß die SPD sich unter Schröder definitiv aus der politischen Tradition der Arbeiterbewegung verabschiedet hat, dann hat die traditionelle Arbeitsteilung zwischen SPD und Gewerkschaften endgültig ihre Grundlage verloren, weil die SPD nicht mehr als der politische Arm einer Bewegung betrachtet werden kann und will, deren ökonomischer Arm die Gewerkschaften sind.

Für die Gewerkschaften und ihre politische Selbstverortung stellt sich also die Frage, ob sie ohne eine bestimmte Partei, gewissermaßen auf sich gestellt und im Bündnis mit anderen gesellschaftlichen Gruppen und mit einer etwa gleichen Distanz zu allen Parteien, die politische Tradition der Arbeiterbewegung fortführen wollen. Eine andere Alternative wäre Zeuner zufolge auch denkbar: "Man könnte sie Anglo-Amerikanisierung nennen: Wie in den USA seit eh und je und zunehmend in England, gäbe es auch in Deutschland keine sozialdemokratische Partei mehr, und die Gewerkschaften würden sich zu rein partikularen und gegeneinander konkurrierenden Interessenvertretungen ihrer jeweiligen Mitgliedergruppen ohne jede politisch motivierte übergreifende Solidarität der Klasse entwickeln."

Den Gewerkschaften empfiehlt Zeuner - vor allem der IG Metall, aber auch der neuen Organisation ver.di (Vereinigte Dienstleistungsgewerkschaft) -, den Abschied von der Arbeiterbewegung nicht nachzuvollziehen, sondern sich im Gegenteil deutlicher und autonomer politisch zu artikulieren und zu positionieren: "Je eher die Gewerkschaften das 'Bündnis für Arbeit' als Forum umfassender politischer Debatten und Verhandlungen betrachten und je politisch eigenständiger sie in diese Verhandlungen und Debatten hineingehen, um so größer ist die Chance, daß die Gewerkschaften und die auf abhängige Arbeit angewiesenen Menschen einen Nutzen aus dieser Veranstaltung ziehen."