Okyay sagt okay

Mit dem Todesurteil gegen PKK-Chef Öcalan wurden die Rachegelüste der türkischen Nationalisten befriedigt, und die Regierung hat Zeit gewonnen

Er persönlich sei ja eigentlich gegen die Todesstrafe, sagte der Vorsitzende Richter im Prozeß gegen Abdullah Öcalan, Turgut Okyay, aber das türkische Rechtssystem schreibe für die Vergehen des PKK-Führers nun einmal das Todesurteil vor. Am Tag der Urteilsverkündung hatte Öcalan selbst noch mit seinen Anwälten gescherzt und gemeint, daß er völlig ruhig sei und mit dem schärfsten Urteil rechnet.

Die türkischen Massenblätter druckten am ersten Tag nach der Urteilsverkündung noch Galgenbilder auf ihre Titelblätter und beschäftigten sich mit der Frage, wie denn jetzt ein Henker berufen werde. Seit 1984 wurde diese Profession nicht mehr praktiziert, und derjenige, der früher diesen Beruf ausübte, teilt mittlerweile das Schicksal seiner ehemaligen Kunden.

Doch bereits einen Tag später begannen auch die Boulevardzeitungen, moderatere Töne anzuschlagen, überall wurde ausführlich über den Revisionsweg berichtet. Staatspräsident Süleyman Demirel und Ministerpräsident Bülent Ecevit gaben sich betont gelassen; beide wiesen ebenfalls darauf hin, daß ein endgültiges Urteil noch nicht gefallen sei. Zur Zeit wird also versucht, die Wogen zu glätten und das Wahlvolk langsam von der wochenlang geschürten Lynchhysterie abzubringen.

Es scheint, als sei Ankara inzwischen zufrieden. Nützlich war bereits die Entführung Öcalans; Bülent Ecevit, damals noch Ministerpräsident auf Zeit eines Minderheitenkabinetts, hatte die Ehre, der Welt mitzuteilen, daß "der Kopf der Separatisten, der PKK-Führer Abdullah Öcalan, sich auf türkischem Boden befindet".

Wochenlang war die türkische Regierung die einzige Verbindung Öcalans zur Außenwelt. Der türkische Geheimdienst verteilte portionsweise Nachrichten und Bilder des PKK-Chefs, die vor allem eine lächerliche Figur zeigten, die um ihr Leben bettelt und sich dem türkischen Staat als Marionette anbiedert. Das Nachrichtenmonopol des staatlichen Senders TRT für den Prozeß auf der Insel Imrali ermöglichte eine entsprechende Berichterstattung.

Auch wenn die wenigen Prozeßbeobachter ein weit differenzierteres Bild von den Dynamiken im Gerichtssaal zeichneten, kopierten die Massenblätter und Fernsehkurznachrichten die Berichterstattung von TRT. Insofern verfügt Ankara jetzt über eine recht stabile Plattform für das weitere Vorgehen in sensiblen Fragen.

Öcalans Auftreten im Gerichtssaal und vor allem auch die Auswahl des Vorsitzenden Richters signalisieren folgendes: Turgut Okyay stammt aus Adiyaman im Südosten der Türkei, kennt also die konfliktreiche Region, um die es geht, und präsentierte sich im Gerichtssaal als Mann mit Format, Gerechtigkeitssinn und Besonnenheit. Öcalan wurde soviel Zeit zu eigenen Äußerungern gelassen, wie es ihm beliebte.

Nach mehreren emotionalen Ausbrüchen der Familien von gefallenen Soldaten und ihrer Anwälte, die in der türkischen Öffentlichkeit als Repräsentanten der "30 000 Opfer des PKK-Terrors und des Baby-Mörders Abdullah Öcalan" präsentiert wurden, schritt Okyay entschieden gegen Lärmen im Gerichtssaal ein und hörte sich geduldig die unerträglich lange, schlecht ausgearbeitete und miserabel vorgetragene Verteidigung von Öcalans Anwälten an.

Das heißt: Neben der Lynchhysterie, die vor allem für die türkische Öffentlichkeit bestimmt war und gleichzeitig das Ausland mit seiner Kritik an der Verletzung von Menschenrechten beschämen sollte, versucht Ankara zur Zeit tatsächlich, Schritte aus dem Öcalan-Dilemma zu entwickeln, das für die Türkei zu teuer wird: wirtschaftlich und außenpolitisch.

Mit dem Todesurteil wurden zunächst die Rachegelüste der Nationalisten befriedigt, nun folgt die Revision: Der oberste türkische Gerichtshof wird mit großer Wahrscheinlichkeit das Todesurteil bestätigen, die Anwälte werden dann vor den Europäischen Gerichtshof nach Strasbourg ziehen. Die Regierung hat damit vor allem erst einmal eine Menge Zeit gewonnen, und es kursieren zur Zeit sogar Gerüchte darüber, daß man in Ankara die Abschaffung der Todesstrafe betreibt.

Hinter den Kulissen werden mit großer Wahrscheinlichkeit Verhandlungen mit der PKK geführt, denn Öcalans Friedensaufruf ist für die Türkei insofern interessant, da er sich im Gerichtssaal ausdrücklich für eine Lösung der Kurdenfrage innerhalb der Türkei ausgesprochen hat. Es wäre also möglich, einem auf der Insel Imrali sitzenden Apo, der natürlich offiziell nicht als Verhandlungspartner akzeptiert wird, Zugeständnisse in der Kurdenfrage zu machen.

Darüber dürften sich in Ankara mit Sicherheit noch die Verantwortlichen streiten, denn es gibt noch immer genug Betonköpfe in der Regierung, die unter Lösungen vor allem die Ignoranz bestimmter Probleme verstehen. Doch Ankara kann die PKK auch nach Öcalans Festnahme nicht auf einen anderen Stern beamen. Und im Falle der Vollstreckung eines Todesurteils würde sowohl im Ausland als auch im Inland das Chaos ausbrechen, das weiß Ankara.

Möglich wäre es natürlich auch, die alte Strategie weiter zu verfolgen: also die Kurdenfrage ignorieren und Apo auf der Insel Imrali verschimmeln lassen. Und zu hoffen, daß er genauso schnell in Vergessenheit gerät, wie die seit dreieinhalb Jahren im Gefängnis sitzenden ehemaligen Abgeordneten der prokurdischen Demokratiepartei DEP.

Dann stünde Ankara strafrechtlich als milde da, und die PKK hätte es weitaus schwerer, mit ihrer bisherigen Strategie - dem bewaffneten Kampf - noch auf Verständnis zu stoßen. Es ist wahrscheinlich, daß Ankara sich an die alte Ignoranz-Strategie hält. Offen ist, wie sich die Gegenseite verhalten wird.