Soziale Ruhezonen

"Point of Sale - Gallery Shopping": Ein Lebensmittelladen in Wien als Kunstprojekt der Gegenökonomie

Die Eleganz der langgestreckten gebogenen Glasfassade aufnehmend, breitet der Laden sein Warenangebot freundlich, hell und geräumig aus. Das bis an die Decke sich hochrankende Regalsystem ist akkurat gefüllt. Im zurückhaltenden funktionalen Design präsentiert sich das dem Lebensmittelladen angeschlossene Café im Nebenraum, wo frischgepreßte Säfte und täglich wechselnde Menüs preisgünstig serviert werden.

Prima, denkt man, Qualitätsshopping in einem sachlichen Ambiente. Doch hier stimmt etwas nicht. Soviel ungenutzter Raum würde einem Krämer Alpträume bereiten. In den Schaufenstern irritiert ein Kartoffelchips-Arrangement, neben der Kasse eine Box mit Informationen über die angebotenen Waren und in einer Ecke Stapel von Papieren wie in einem Info-Laden auf dem Kiez. Man geht ein bißchen herum, schnüffelt an den Bananen, studiert die Weinpreise und stöbert endlich in der Info-Ecke herum. Aha. Das Ganze ist ein Kunstprojekt und zugleich ein funktionierendes Lebensmittelgeschäft, initiiert und betrieben vom Berliner Künstler Andreas Wegner, den es deshalb nach Wien verschlug, weil hier die Anschubfinanzierung (115 000 Mark) durch den österreichischen Staatskurator Wolfgang Zinggl, Vertreter eines sozialen Kunstbegriffs, winkte.

Der im März 1999 eröffnete Laden, den Wegner zusätzlich zur staatlichen Förderung mit Privatkrediten in gleicher Höhe finanzierte, erzielt mittlerweile Umsätze in der Gewinnzone. Doch es geht nicht um Existenzgründung auf dem Umweg der Kultursubvention, denn Wegner will den Laden mittelfristig, sobald eine funktionierende wirtschaftliche Basis geschaffen ist, weiterverkaufen bzw. dem Mitarbeiterkollektiv übergeben.

Die Erfolgsstory von "Point of Sale" ist um so erstaunlicher, da hier zwei Produktionsmodelle - das des Künstlers und das des Unternehmers - zusammengehen. Der im bürgerlichen Verständnis auf Symbolproduktion verpflichtete und dafür mit Ruhm und Reichtum belohnte Künstler siedelt sein Projekt von Anfang an auf einer Ebene an, der Ökonomie, die er im Kunstbetrieb eigentlich erst am Ende der Reproduktionskette erreicht. In der Rolle des Künstlers als Unternehmer manifestiert sich ein paradoxaler Aspekt der Warenzirkulation: Nicht der Markt, er selbst bestimmt im Idealfall den Maßstab der Wertschöpfung.

Diese Gegenökonomie soll tendenziell so funktionieren: Das Warensortiment - im wahrsten Sinne des Wortes ein "duales System" - enthält jeweils die gleichen Produkte aus konventionellem und biologischem Anbau. Die Preisgestaltung ist dabei die zentrale Mechanik des Projekts. So sollen Produkte aus konventionellem Anbau, deren Herstellung Schäden an der Umwelt und in der Nahrungskette verursachen, teurer verkauft werden als Öko-Produkte, deren Herstellung zwar teurer, dafür aber umweltschonender ist. Diese diametral gekippte Preisgestaltung hat nichts mit Öko-Ideologie zu tun, sie ist Ausdruck der sogenannten ganzheitlichen Bilanzierung, denn billig produzierte konventionelle Produkte verursachen an anderer Stelle gravierende Schäden, die im Preis keine Berücksichtigung finden.

Die "ganzheitliche Bilanzierung", entwickelt vom Institut für Kunststoffprüfung und Kunststoffkunde der Universität Stuttgart, erlaubt die gleichzeitige Beurteilung der wichtigsten ökologischen Auswirkungen von Produkten; sie führt den Endpreis eines Produkts nicht ausschließlich auf die Herstellungskosten und den Arbeitsbegriff zurück, sondern setzt ihn in Beziehung zum gesamten Produktionskontext. Derart kontextualisiert, erweist sich die Preisgestaltung als ökonomisches Instrument der Gegenfinanzierung. Noch aber ist Wegner überwiegend auf eine konventionelle Preisgestaltung angewiesen; er schlägt die handelsüblichen Margen auf den Einkaufspreis drauf.

Das Projekt wird begleitet von Produktlinien- und Pendelanalysen (unterschiedliche Beratungsmethoden im Hinblick auf die Einflußnahme beim Kaufverhaltens) des Öko-Institus Freiburg, die in der Info-Box nachzulesen sind. Eine Chemikerin recherchiert zusätzlich die bei der Lebensmittelproduktion entstehenden Nebeneffekte. Ein-, zweimal im Monat verwandelt sich der Laden in einen Veranstaltungsort, wo Vorträge und Diskussionen u.a. zu Alfred Sohn-Rethel, zu gentechnisch veränderten Lebensmitteln oder zu den sozialen Folgen der Produktion allgemein stattfinden.

Die Kunden - Wegner nennt sie "User" - finanzieren nicht nur ein Modell kritischer Kunstpraxis außerhalb der Symbolproduktion, sondern vor allem ein alternatives Verkaufssystem. Die Teekampagne z.B., die Wegner in sein Sortiment aufnehmen wollte, verweigerte sich, da sie an Exklusivität und Selbstvertrieb (der zwar niedrigere Verkaufspreise, aber auch höhere Gewinne ermöglicht) interessiert ist. Das Beispiel macht deutlich, daß ein alternatives Produkt mit Exklusivität aufgeladen werden muß, um als Qualitätsprodukt zu gelten. Im diffusen Feld von Bedarf und Bedürfnis die Waren-Libido besetzend, reproduziert es somit die herrschende Marktideologie.

"Point of Sale" (im Untertitel ironisch "Gallery Shopping") ist ein durch eine tendenziell alternative Ökonomie zusammengehaltenes soziales System kommunikativen Austauschs, ein Supermarkt in Form eines Tante-Emma-Ladens. Nicht nur daß die drei Mitarbeiter als Verkäufer und kritische Berater fungieren, der Laden ist insgesamt eine Alternative zu den Malls nach US-amerikanischem Muster, wo das erlebnisorientierte Einkaufen mit der Beseitigung störender Elemente, von Obdachlosen bis Drogenbenutzern, einhergeht. Der Krise des Urbanen, der Verödung städtischen Lebens, der Privatisierung öffentlicher Räume und der Unterscheidung der Menschen in konsumfähig und -unfähig begegnet der Laden mit einem Gegenmodell, das den Kauf mit kritischer Beratung und sozialen Ruhezonen verbindet.

"Point of Sale - Gallery Shopping" verweist indirekt auch auf Bestrebungen von Ladenbetreibern in Innenstadtbereichen zur Selektion der Kunden nach Kriterien der Konsumfähigkeit. So versucht die Interessengemeinschaft Zeil e. V. seit Jahren, der Stadt Frankfurt am Main die Konsummeile abzukaufen, um mittels Wachposten das Einkaufsparadies sozial kontrollieren zu können.

Historische Beispiele einer Gegenökonomie kennen wir aus dem italienischen Nordosten Ende der siebziger Jahre. Dem Niedergang der Großindustrie folgte eine kurze Blüte der wirtschaftlichen Dezentralisierung. Die entlassenen Arbeiter gründeten mit den schwer erkämpften Abfindungen funktionierende, industrie-unabhängige Kleinbetriebe. Toni Negri hat untersucht, wie sich in kürzester Zeit Formen der Zusammenarbeit und der Kooperation bei der Verwaltung ihres Territoriums entwickelten, insbesondere die Präsenz auf dem politischen Markt. Doch die Industrie - etwa Benetton - machte dem Experiment ein Ende, indem sie die Formen der Dezentralisierung kooptierte.

Trotz der erreichten relativen Autonomie, allerdings mit Mitteln der Kulturförderung, antizipiert "Point of Sale" möglicherweise ein Verkaufsmodell, wie Kritik zu einem integrativen Marketingfaktor werden kann. Im Sommer wird Julius Deutschbauer im Laden eine Performance mit dem Titel "Mein Kampf gegen die Brau Union" durchführen; Deutschbauer verkostet Biersorten, die von der Brau Union in Österreich aufgekauft und im Zuge der Rationalisierungsmaßnahmen geschmacklich standardisiert wurden.