Das Jahrhundert der Lager

Über Stärken und Schwächen eines Begriffs.

Der Topos vom "Jahrhundert der Lager" behauptet, daß die Katastrophe keine plötzliche Heimsuchung des Mittelalters, keine überraschende Entgleisung eines Zuges war, der ansonsten in die richtige Richtung fährt. Er legt vielmehr nahe, daß Zivilisation und Barbarei miteinander verstrickt sind - vielleicht unentwirrbar -, und daß die Lager nicht so sehr eine pathologische, sondern eine konzentrierte, bestenfalls extreme Form von leitenden Funktionsprinzipien moderner Gesellschaften sind.

Der gegenwärtig radikalste Vertreter dieser These ist Zygmunt Bauman, der das Phänomen des Lagers nicht nur geschichtsphilosophisch, sondern auch von seinen Funktionsprinzipien als moderne Einrichtung einstuft. Grausamkeiten und Massaker hätten die Geschichte des homo sapiens immer begleitet, teilt uns Bauman mit, doch das Lager sei zweifelsohne eine moderne Erfindung. "Modern" meine, daß bestimmte Errungenschaften, die im Denken der Aufklärung noch mit Fortschritt und Emanzipation verknüpft waren, für die Errichtung und das Funktionieren eines Lagersystems unabdingbar seien. Rationalität etwa benötige die Fähigkeit, aus einer Distanz heraus zu handeln und lasse damit Gefühle erkalten. Und dies sei unabdingbar, denn die Effektivität des Lagersystems sei nur durch kühle Organisation zu garantieren und nicht durch blindwütigen Sadismus.

Bauman hat zur Beschreibung des Funktionierens der Lagergesellschaft viele Beobachtungen Hannah Arendts übernommen. Ihr Zugang zum Phänomen "Lager" ist jedoch im Gegensatz zu Bauman ein historischer. Schon der Titel ihres Buches "Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft" weist auf eine entscheidende Differenz hin. Zwar sieht auch sie die totale Herrschaft, deren Kennzeichen die Lager sind, aus der bürgerlichen Gesellschaft entstehen: Ohne die Zeitalter des Antisemitismus und des Imperialismus hätte es keine totale Herrschaft gegeben. Es handele sich, so Arendt, aber um Ursprünge, nicht um Ursachen.

Die von Bauman behauptete Kausalität sieht sie nicht: Die Lager haben einen historischen Ort und können nach dem Ende der totalen Herrschaft auch wieder verschwinden. Ebenfalls im Gegensatz zu Bauman charakterisiert sie die Konzentrationslagergesellschaft als "Irrsinnswelt". Von irgendwelchem Nutzen des Terrors oder ökonomischen Interessen könne nicht gesprochen werden, die Lager seien um ihrer selbst willen da. Arendt verweist darauf, daß das entscheidende Merkmal der Opfer ihre Unschuld ist. Gerade die Vernichtungslager waren bestimmt für Juden oder Zigeuner "überhaupt" und dienten nicht als Abschreckungs- oder Strafmaßnahmen für eine potentiell renitente Bevölkerung.

Während sie das Lager selbst also als unzweckmäßig einstuft, bestimmt sie den Prozeß seiner Zurichtung und Präparierung für einen herrschaftsrationalen Blickwinkel als einsichtig und zweckvoll: Heimatlose, Staatenlose, Rechtlose, wirtschaftlich Überflüssige, sozial Unerwünschte sollten hier konzentriert werden. Mehr noch: Gerade die Unzweckmäßigkeit des Lagers diene einem höheren Zweck, nämlich dem totaler Herrschaft. Sie seien Laboratorien der totalen Bemächtigung des Menschen, das Gesellschaftsideal für die totale Herrschaft. Die Erniedrigung, Verdinglichung und die schließliche Ausrottung von Menschen verkündeten die Botschaft, daß Menschen überflüssig seien.

Hannah Arendts zentraler Begriff, unter dem sie Entstehung und Funktionsweise der Lager subsumiert, ist der der totalitären Herrschaft. Es waren für sie die Konzentrationslager, welche die totalitäre Herrschaftsform grundlegend von jeder anderen unterschieden. Die Internierungslager beispielsweise, die es im Ersten Weltkrieg gab, waren Institutionen von ganz anderer Art. Indem sie den Gebrauch des Konzentrationslagers durch das Nazi-Regime und das Stalin-Regime miteinander verglich, zog sie Rückschlüsse über die Ähnlichkeit beider Regimes überhaupt, ja, die Analyse des Lagers ist der Schlüssel zu ihrer Theorie totaler Herrschaft: "Sowohl die Geschichte der Nazis als auch die der Sowjets belegt eindeutig, daß keine totalitäre Regierung ohne Terror auskommen und kein Terror ohne Konzentrationslager effektiv sein kann."

Dabei nivelliert sie einen zentralen Unterschied beider Lagersysteme: die Definition, wer ins Lager soll und zu welchem Zweck, also die Funktion des Lagers. Der Nationalsozialismus versuchte, den Wahn der Volksgemeinschaft, der ethnisch-rassisch homogenen Gemeinschaft der Deutschen, materiell werden zu lassen. Diese Volksgemeinschaft produzierte den Schädling, dessen Definition in erster Linie über biologisch-rassistische Merkmale erfolgte und der ausgesondert werden mußte. Seine Bestimmung war die Ermordung; auch dort, wo zunächst seine Arbeitskraft ausgebeutet wurde, war dies nur ein Umweg für ein letztendlich anderes Ziel. Das stalinistische System produzierte dagegen den Verräter. Das Ziel dieses Systems war die Gesellschaft ohne Widersprüche, die Eliminierung der Politik. Jeden konnte der Abtransport ins Lager treffen, die Dynamik des Terrors lag in der Paranoia des Regimes.

Zum Zweck des politischen Terrorismus gesellte sich in der SU der Versuch, mit gewaltsamen Mitteln durch rücksichtslose Ausbeutung von Zwangsarbeit eine industriell nachholende Entwicklung in beschleunigter Form durchzuführen. Wenn auch die Todeszahlen des Gulag die des NS-Lagersystems übertreffen, so war das eigentliche Ziel nicht die Ermordung der Häftlinge, sondern ihre erbarmungslose Ausbeutung ohne Rücksicht auf Verluste sowie die Einschüchterung der gesamten Gesellschaft. Hannah Arendts Begriff der totalitären Herrschaft trifft daher bestens auf den Stalinismus zu, und auch für die innere Struktur beider Lagergesellschaften ist er - in der Bedeutung eines Angriffs auf die menschliche Natur - sinnvoll, wenn die Lager auch unterschiedliche Zielsetzungen - hier Terror und Ausbeutung, dort Vernichtung - hatten.

Für den Nationalsozialismus als Ganzen dürfte er jedoch kaum gelten. Für diejenigen nämlich, die aufgrund ihrer Abstammung der Volksgemeinschaft zugehörten und die nicht beabsichtigten, das Regime zu bekämpfen, stand einem bequemen und sorgenfreien Leben nicht viel entgegen. Kurzum: Während der Gulag in einer osmotischen Beziehung zur Sowjet-Gesellschaft stand - sozusagen eine radikale Zuspitzung des Eigenen war -, sind die Vernichtungslager die Konsequenz der Volksgemeinschaft - eine radikale Aussonderung, das Andere des Eigenen. Der Begriff des Totalitären, bezieht er sich auf das Herrschaftssystem, kann diese Differenz nicht fassen.

Die historische Unschärfe des Lager-Begriffs zeigt sich bei Zygmunt Bauman noch deutlicher. Das Lager erklärt sich aus einem der Moderne als immanent vorausgesetzten universellen Prinzip: dem Drang nach Ordnung, um Ambivalenz und Chaos zu beseitigen. Aus diesem Drang entstehen Entwurf, Gestaltung, Verwaltung und Technologie, aber auch immer neuer Abfall, den es wiederum zu beseitigen gilt. Auf der gesellschaftlichen Ebene fällt es dem Staat zu, seine nützlichen Pflanzen zu hegen und das Unkraut zu entfernen.

Die Moderne ist nach Bauman das Zeitalter artifizieller gesellschaftspolitischer Entwürfe, das Zeitalter der Planer, Visionäre und Gärtner, das Lager ist in Anlehnung an Arendt ihr Laboratorium. Der Genozid erscheint in diesem Sinne als eine Übung in Sozialtechnologie: "Das typisch moderne Streben nach sozialer Planung und Intervention ging eine mörderische Verbindung mit der typisch modernen Konzentration von Macht, Machtmitteln und Organisationsstrukturen ein."

Somit hat das Lager keinen spezifischen historischen und politischen Ort. Es ist logischer Kulminationspunkt eines Zivilisationsprozesses, der natürliche, triebbedingte Verhaltensimpulse durch künstliche und flexible Verhaltensformen ersetzt und dem Menschen derart eine Dimension der Unmenschlichkeit und Destruktivität eröffnet hat, die unter der Vorherrschaft natürlicher Triebe undenkbar ist. Da aber die von ihm beschriebenen Essentials der modernen Zivilisation universell sind, bleibt die Frage offen, warum der konsequente Mord an den europäischen Juden Deutschen vorbehalten blieb und wie Sadismus und Mordlust, die den Lageralltag gleichfalls bestimmt haben, in ein solches Bild einzuordnen sind. Bauman bewegt sich auf einer solch hohen Abstraktionsstufe, daß seine These bestens dafür geeignet ist, die Spezifität der Vernichtungslager in einem "Jahrhundert der Lager", die deutschen Verbrechen an der Menschheit in einem Zeitalter der Gewalt verschwinden zu lassen.

Jean Améry hatte schon Mitte der sechziger Jahre befürchtet, daß es nicht mehr lange dauern werde, bis Auschwitz in ein langes Jahrhundert der Gewalt eingemeindet und eingeebnet werde. Améry, der selbst Lagerinsasse von Auschwitz war, verkörpert den Kontrapunkt zu jeder Denkfigur, die einen Zusammenhang zwischen Aufklärung und Moderne einerseits und dem Schrecken der Lager andererseits annimmt.

Améry wehrt sich mit Vehemenz gegen jegliche Integration seiner persönlichen Erfahrungen in und mit dem Lager Auschwitz in irgendwelche groß angelegten übergeordneten Begriffe wie Moderne, Kapitalismus oder Totalitarismus. Er betont das Krankhafte des Lagers, das nicht im Windschatten der Aufklärung über die Menschheit gekommen sei, sondern dem aufklärerischen Denken und dem Humanismus gegenüber stehe. Améry wendet sich dagegen, daß ausgerechnet Auschwitz herhalten muß, "ein dialektisches Exerzitium zu inspirieren". Er beharrt darauf, "daß es das Wahre und das Falsche gibt, das Gute und das Böse, und daß unter Umständen sehr wohl, was wahr und gut ist, sich aufs souveränste in Sätzen sagen läßt, die den allzu Gewitzten, allzu Gespitzten als banal erscheinen". Als im Lager geschlachtet wurde, gab es Täter und Opfer - so banal ist die Geschichte. Und vor dieser Einfachheit hätten die dialektischen Denker einen Horror, weil sie Einfachheit mit Einfältigkeit verwechselten.

Zwar gesteht er, daß er als Intellektueller im Lager an die Grenzen des humanistischen Geistes gestoßen sei, der noch an ein Jenseits des Lagers glauben konnte: "Ungeheuerlich und unüberwindlich türmte sich die Machtgestalt des SS-Staates vor dem Häftling auf, eine Wirklichkeit, die nicht umgangen werden konnte, und die darum am Ende als vernünftig erschien. Jedermann, er mochte es geistig draußen gehalten haben wie auch immer, wurde in diesem Sinne hier zum Hegelianer: Der SS-Staat erschien im metallischen Glanz seiner Totalität als Staat, in dem die Idee sich verwirklichte."

Dennoch verweigert er sich der These vom Totalitären der Aufklärung, des Kapitalismus, der Moderne oder einer Ideologie, nachdem er miterleben mußte, wie ein Lagerältester einen Häftling buchstäblich zertreten hatte. Améry betrachtet es als eine "empörende Beschränktheit, wenn die Marxisten unbeirrbar (Ö) das Lager als normale Frucht des Kapitalismus bezeichneten, wo doch jeder Vollsinnige einsehen mußte, daß Auschwitz nichts mit Kapitalismus oder irgendeiner beliebigen Wirtschaftsform zu tun hatte, sondern die wirklichkeitgewordene Ausgeburt kranker Hirne und pervertierter Emotionalorganismen war."

Im Zentrum des Nationalsozialismus steht das Verbrechen, ein identitätsstiftendes Verbrechen, und nicht eine Kategorie des normalen gesellschaftlichen Lebens, wie etwa der Profit. In der Verwirklichung der Volksgemeinschaft durch die Vernichtung der Ausgeschlossenen mit ganzer Seele und Hingabe, im geschichtlichen und sozialen Faktum des Wahnes von Antisemitismus und Volksgemeinschaft, in der Identität der Deutschen mit ihrem Staat liegt das Wesen des Nationalsozialismus und das besondere Deutsche in diesem Jahrhundert.

Keine Abstraktion über Lager, Gewalt, Ideologie, das Totalitäre, wo immer man es auch vermute, darf unwidersprochen über dieses Singuläre hinweggehen. Da aber das spezifisch Deutsche selbst eine soziale und polit-ökonomische Konstellation ist, kommen wir andererseits ohne allgemeine Vorstellungen und Begriffe von Gesellschaft und Geschichte auch nicht aus. So grobschlächtig solche Etikettierungen wie "Jahrhundert der Lager" auch sind - diese verweist zumindest auf zwei wichtige Gesichtspunkte, um die jede kritische Gesellschaftstheorie und jede sich einer reflexiven Vernunft verpflichtet fühlende Geschichtsphilosophie nicht herum kann. Erstens erinnert die Metapher vom "Jahrhundert der Lager" daran, daß die gesellschaftlichen Produktivkräfte dazu tendieren, in Destruktivkräfte umzuschlagen, wenn die Ordnung der Gesellschaft ihrer humanen Nutzung entgegensteht, und daß die Entfaltung dieser Destruktivkräfte in ihrer Wirkungskraft um so verheerender ausfällt, je entwickelter die Produktivkräfte sind.

Zweitens enthält der gedankliche Zugriff auf das 20. Jahrhundert von der totalitären Erfahrung der Lager her den zwingenden Gedanken, daß sich moderne - und das heißt kapitalistische - Gesellschaftsformen nur von ihren Extremen aus angemessen erschließen lassen. Kritische Theorie kann nach den Ereignissen, die unter den Namen Auschwitz und Gulag zusammengefaßt werden, nicht mehr einfach nur Krisen-, sondern muß zugleich Katastrophentheorie sein. Nicht von ungefähr beginnt Adornos und Horkheimers "Die Dialektik der Aufklärung" mit der programmatischen Frage, "warum die Menschheit anstatt in einen wahrhaft menschlichen Zustand einzutreten, in eine neue Art von Barbarei versinkt".

"Jahrhundert der Lager"? Nein, wenn das Lager als Stigma des Jahrhunderts stilisiert wird, als örtliches Sinnbild unzähliger Gewalterfahrungen von Überwachen und Strafen über Ghettoisierung und tödliche Ausbeutung bis zum Massenmord um seiner selbst willen. Ja, wenn damit auf den Abgrund hingewiesen werden soll, der - selten sichtbar - unter der dünnen Patina der Zivilisation lauert. Ob mit dem Lager tatsächlich das Scheitern jeglicher Emanzipation und das Ende des Subjektes vollzogen und angezeigt ist, wie es Adorno befürchtet, Arendt historisch auf die totalitäre Ordnung eingeschränkt sieht und Améry gänzlich bestreitet? Auf die Frage, welche Auswirkungen die Französische Revolution gehabt habe, antwortete Tschou en-Lai Anfang der siebziger Jahre: "Darüber zu entscheiden, ist noch zu früh."

Der Beitrag erscheint in voller Länge in der Zeitschrift iz3w