Der Künstler auf Bewährung

Die Verdoppelung der Faszination an der Schönheit des Gewaltsamen im Künstlermythos. Anmerkungen zu einer Ästhetik von Mord und Totschlag.

Mit seinem Film "Das Meisterspiel", der dem Farb-Anschlag auf 30 Gemälde von Arnulf Rainer und der Frage nach den möglichen Tätern nachgeht (Jungle World, Nr. 22, 23 und 27/99), hat Lutz Dammbeck eine Debatte ausgelöst, die gleichmaßen von Abwehr, Faszination und politischer Standortsuche geprägt ist. Es geht um die Frage, welche Form von Gewalt sich noch mit Ästhetik verträgt und grundsätzlich noch als Ästhetik reklamiert werden kann, ohne als Terrorismus oder Mord zu gelten.

Anlaß für diese Auseinandersetzung ist ein Bekennerschreiben - vermutlich aus dem Umkreis der Bajuwarischen Befreiungsarmee (BBA) -, das eine krude Gemengelage aus Politik und aktueller Kunstheorie und -praxis ist, und Dammbecks Überlegung, ob das Kunstattentat auf Rainers Bilder mit den terroristischen Anschlägen in Österreich 1994, bei denen es Tote und Verletzte gab, zusammenhängt. Da Dammbeck seine Überlegungen allerdings im Hinblick auf einen bestimmten Kunstbegriff anstellt, mutmaßen Kritiken zu Recht, daß diesem Kunstbegriff das eigentliche Interesse gilt.

In einem Schreiben an Jungle World antwortet Dammbeck auf die Kritik und erklärt: "Am Bezugsrahmen für dieses Wahnbild (das der Bajuwarischen Befreiungsarmee; G.W.) hat allerdings (unbeabsichtigt) auch eine Kunstkritik und künstlerische Praxis mitgewirkt, die den Kunstbegriff soweit 'entgrenzt', 'immaterialisiert', 'kontextualisiert' und in 'interventionalistische Praxen' 'erweitert' hat, daß theoretisch auch die 'Aktionisten' der BBA darin Platz finden können. (...)

Wenn Terroristen das Angebot des 'erweiterten Kunstbegriffs' nun anscheinend annehmen und sich als Künstler bezeichnen, wer will sie daran hindern? Wer will, wo sich die Kunst zu Leben, zu Politik, Unterhaltungsindustrie und Showbiz öffnet und ununterschiedbar werden will, nun 'Grenzen' ziehen und ungebetene Gäste wieder 'ausgrenzen'? Lassen sich 'echte' Terroristen nur aus dem Kontext weisen, weil sie 'ernst' machen und nicht nur mit Bombenattentaten und Killerspielen kokettieren, wie die 'Terroristen' im Kunstbetrieb? Muß eine 'grenzenlose' Moderne also wieder 'Grenzen' ziehen?"

Das sind ebenso berechtigte wie gefährliche Fragen, die allerdings in eine Schieflage geraten, weil sie eben auf den "erweiterten Kunstbegriff" hin gestellt werden und außer acht lassen, was z.B. von Karl Heinz Bohrer betont wird, daß nämlich in historischer Hinsicht "Gewalt und europäische Kunst seit jeher aufeinander bezogen waren". Mit "seit jeher" meint Bohrer etwas ganz Bestimmtes: "Oder könnte man nicht die gesamte Moderne von Rang unter die Gewaltperspektive stellen? Nicht nur wegen der offensichtlichen Obsession einer sado-masochistischen Affinität, sondern auch wegen der Inversion dieses Themas durch die künstlerische Form selbst: der Destruktion ihrer traditionellen Formen!" (Merkur, Nr. 4/98)

Ausgangspunkt dieser "Mord-Kunst" der Moderne (Kathrin Hoffmann-Curtius) ist wohl Thomas de Quinceys Essay "Mord als schöne Kunst betrachtet" von 1827. Darin analogisiert de Quincey die Tat eines Mörders mit den Gewalthandlungen, die der Künstler vollbringen müsse, um die Konventionen der bürgerlichen Welt zu zerstören. Rund 20 Jahre später soll, Norman Bryson zufolge, Eugène Delacroix gesagt haben: "Was Kultur antreibt, ist tatsächlich rohe Gewalt, etwas Primäres und Animalisches." Etwa zur gleichen Zeit, 1842, schrieb Michail Bakunin in den Jahrbüchern für Wissenschaft und Kunst jene Sätze, die für die Dadaisten fast zu einer Art von Motto wurden: "Der Geist, dieser alte Maulwurf, hat sein unterirdisches Werk bereits vollbracht, und bald wird er wieder erscheinen, um Gericht zu halten. (...) Laßt uns darum dem ewigen Geist vertrauen, der nur deshalb zerstört und vernichtet, weil er der unergründliche und ewig schaffende Quell allen Lebens ist. Die Lust der Zerstörung ist auch eine schaffende Lust."

Was in einem anarcho-syndikalistischen und dadaistischen Kontext als Rebellion gegen künstlerische Tradition und Konvention verstanden werden kann, erhielt durch André Gide eine weitere, eine menschen- und massenverachtende Komponente. Gides 1914 veröffentlichtes Narrenspiel "Die Verliese des Vatikan" ist der Ort, an dem der sogenannte acte gratuit zelebriert und der Mord als zweckfreie oder grundlose Handlung verstanden wird: Lafcadio stößt den ihm unbekannten Amédée Fleurissoire aus einem Zug, in dem beide sitzen: "Ein Verbrechen ohne Motiv. (...) Ich bin eigentlich nicht so sehr auf Ereignisse neugierig als auf mich selbst", hatte er vor der Tat festgestellt.

Fleurissoire ist für Lafcadio der Widerling, das Scheusal, ein Angehöriger der Klasse der "Krustentiere". Das Opfer der Gewalt ist also nicht nur namenlos, sondern wird auch entmenschlicht, es steht nurmehr stellvertretend für eine Institution, für unanschauliche Begriffe wie Religion, Familie, Vaterland und für moralische Instanzen und Werte.

Fünfzehn Jahre nach den "Verliesen" und elf Jahre nach dem Ersten Weltkrieg haben die Surrealisten im "Zweiten Surrealistischen Manifest" für dieses namenlose Objekt einen Namen gefunden: die Menge. Ihr gilt der surrealistische Mordanschlag, der nun acte surréaliste heißt: "Die einfachste surrealistische Tat besteht darin, mit Revolvern in den Fäusten auf die Straße zu gehen und blindlings, solange man kann, in die Menge zu schießen."

Wie bei André Gide sind die potentiellen Oper ebenso zufällig und daher ebenso grundlos gewählt. Doch während Fleurissoire der unspezifizierte und zufällige Repräsentant für das globale große Andere ist, das der Literat nicht ist, wird "die Menge" für die Surrealisten zur Metapher der französischen Gesellschaft mit ihren Konventionen, Normen und Idealen, von der es sich abzusetzen gilt: "Wer nicht wenigstens einmal im Leben Lust gehabt hat, auf diese Weise mit den derzeit bestehenden elenden Prinzipien der Erniedrigung und Verdummung aufzuräumen - der gehört eindeutig in diese Menge und hat den Wanst ständig in Schußhöhe."

Der "bleiche Verbrecher" in Nietzsches "Zarathustra" (1883) werkelte noch mit dem Messer. "Seine Seele wollte Blut, nicht Raub: Er dürstete nach dem Glück des Messers." Die Surrealisten zogen mit dem effizienteren Revolver los, (nicht nur) Künstler belehnten nach dem Zweiten Weltkrieg das Bild einer Massenvernichtungswaffe - der Atombombe - für ihre Visionen von Vernichtung und Neuschöpfung.

Otto Pine von der Gruppe Zero veröffentlichte 1961 "Wege zum Paradies", und der kürzeste Weg dorthin schien ihm der Einsatz der Atombombe zu eröffnen: "Warum schicken wir nicht unter Einsatz aller menschlichen Klugheit mit den gleichen Sicherheiten, mit denen ihre kriegerische Erprobung versehen wird, alle Atombomben der Welt zum Vergnügen in die Luft, ein grandioses Schauspiel der menschlichen Erfindungsgabe zum Lobe der menschlichen Freiheit?"

Zur gleichen Zeit sah der französische Künstler Yves Klein in den Schattenbildern von Hiroshima die "Hoffnung" auf eine andere permanente Existenz - "gänzlich immateriell". Die Toten von Hiroshima dienten ihm als Anregung für seine "Anthropometrien". Die Mythen vom Feuer als reinigender, läuternder Kraft, so Silke Wenk, verbinden sich in dieser Zeit mit Visionen und Mythen von Raumfahrt und Atombombe.

Bohrer meinte mit "Gewalt" nicht "Gewaltanwendung", sondern "Gewaltdarstellung", aber Dammbeck lenkt mit seinem Verweis auf die Koketterie der Kunstterroristen die Aufmerksamkeit auf die fasziniert vorgetragene kriminelle Energie, aus der sich der Künstlermythos speist.

Von Edgar Degas ist der Ausspruch überliefert: "Ein Gemälde (oder ein Bild) ist eine Sache, die soviel List, Bosheit und Laster erfordert, wie die Ausführung eines Verbrechens." So unerträglich es auch zu denken sein mag, nicht mehr zwischen Rede und Tat zu unterschieden, so ist doch seit Theresa de Lauretis und mit Judith Butler diese Trennung nicht mehr so leicht zu erklären, haben doch beide diskutiert, wie eine Rhetorik der Gewalt diese nicht nur dar- oder ausstellt, sondern Gewalt zugleich herstellt.

Mit Blick auf diese spezielle europäische Kunst (-Geschichte) ist es absurd zu fragen, ob eine grenzenlos gewordene Moderne in ihre Grenzen gebombt werden muß. Was Dammbeck, anders als der im Film zu Worte kommende Helmut Kohleberger, nicht sehen will, ist, daß alle Öffnung in den Dogmatismus dessen gezwungen wird, was sich als Kunst bewähren muß. Wäre nämlich alles Kunst, hörte sie auf zu existieren, oder es gäbe kein Leben mehr. Eine Kunst, die auf eine ununterscheidbare Mischung mit dem Leben hinauswill, nimmt sich aus der Verantwortung.

Für den Künstlermythos und für eine Veränderung, die nur als gewaltsame vorstellbar ist, gilt auch heute noch, was Jürgen Habermas zur Grunderfahrung surrealistischer Künstler und Schriftsteller erklärte: "Das Reich des Heterogenen öffnet sich nur in jenen explosiven Augenblicken faszinierten Erschreckens, wenn die Kategorien zusammenstürzen, die den vertrauten Umgang des Subjekts mit sich und der Welt garantierten."

Wenn nun die Bajuwarische Befreiungsarmee mit dem "explosiven Augenblick" ernst macht und die Trennung von Kunst und Leben aufhebt, dann ist dies schlicht ein Fall für die Staatsanwaltschaft. Es muß aber möglich sein zu fragen, wieso sich Mörder auf eine künstlerische Tradition beziehen können, und wie eine Theorie dazu beigetragen hat, in Künstlermythen und Geniekult die Faszination der Schönheit von Gewalt zu verdoppeln.