Die Versuhrkampung des Pop

"Viva MTV!" -Das Frankfurter Verlagshaus hat das Musikfernsehen entdeckt

Irgendwie hat es etwas unfreiwillig Komisches, wenn Suhrkamp- und Popkultur aufeinanderprallen: Wie eine alte Tante, die uneingeladen und unmöglich kostümiert auf einer Party des schockierten Neffen aufkreuzt, allen Anwesenden ihr Gespräch aufnötigt und überhaupt nicht wieder gehen will.

Daß man es im Hause Suhrkamp tatsächlich ernst meint mit dem Pop und vorhat, sich in diesem Segment häuslich einzurichten, läßt sich am belletristischen Programm ablesen, wo bereits die Elite deutschsprachigen Pop-Literatur-Schaffens unter Vertrag steht. Jetzt muß auch noch die ehrwürdige "edition suhrkamp" herhalten, die juvenile Aufbruchstimmung des Verlages mit Theorie zu flankieren. "Viva MTV!" heißt der "Sampler (!) zur Geschichte, Ästhetik und Ökonomie von Popmusik im Fernsehen".

Das klingt nach einer audiovisuellen Kulturrevolution, die selbst die akademisch vorbelastete Community nicht mehr so ohne weiteres wegzappen kann. Für die originäre Viva- und MTV-Zielgruppe ist hingegen anscheinend wenig Sachdienliches dabei. Eindrücklicher als in einem wutschnaubenden Verriß des Buches in einem einschlägigen Techno-Zirkular hätte die Verständnislosigkeit zwischen den beiden Welten wohl kaum abgebildet werden können. Der anakademisierte Spex-Leser mit Szene-Anbindung und Kabelfernsehen wird der Sprache von "Viva MTV!" zwar besser folgen können, aber kaum etwas darin finden, was er nicht schon andernorts aufgeschnappt hätte.

Für wen also dieses Buch? Vielleicht ja für semi-interessierte Musikfernseh-Muffel oder solche, die, wie der Autor, qua drittklassiger Satellitenschüssel von den magischen Kanälen abgeschnitten sind und sich dennoch gern erzählen lassen, wie das eigentlich war, 1981, als MTV in den USA auf Sendung ging.

Die ersten Bilder, die die Welt damals vom Pop-Mond erreichten, waren die von Neil Armstrong, als er zu den programmatischen Klängen von "Video Killed the Radio Star" die MTV-Fahne in die noch unberührte Oberfläche der Mattscheibe rammte. Die Vorgeschichte wie die gesamte Erfolgsgeschichte von MTV liest sich zwar nicht ganz so packend wie ein Grishamscher Wirtschaftsthriller, aber doch fast. Schurken und Halunken tauchen auf, das Ganze ein riesiger Machtpoker, MTV, wie wir es heute kennen, doch nicht gottgewollt, sondern von Menschenhand maliziös eingefädelt!

Anfangs als ungeliebtes Problemkind zwischen den Konzernen hin und hergeschubst, erwies sich Mitte der Achziger, daß das Konzept von MTV - "Music is the global language. (Ö) We want to be the global Rock 'n' Roll village where we can talk to the youth worldwide" - aufgehen würde. In den Jahren danach bot MTV ein Beispiel wie aus dem Lehrbuch für machiavellistisches Management dafür, wie man weltweit expandiert und gleichzeitig den nationalen Markt durch Differenzierung so verstopft, daß kein Mitbewerber hochkommen kann; wie man zugleich die Zulieferer in Schach hält und eine Beteiligung an den explodierenden Produktionskosten für Videos durch ein geschickte Politik des Teilens und Herrschens vermeidet.

Erst lokale Konkurrenten wie Viva bewirkten in den letzten Jahren einen Knick in der bis dahin erfolgreichen Globalstrategie, und MTV mußte ebenfalls auf regional differenzierte Programme umsatteln. Allerdings kehrt die Globalstrategie auf höherem Niveau wieder. Die Zukunft des Musikfernsehens ist längst nicht mehr die eines Handlangers der Tonträgerindustrie, sondern liegt in Cross-Promotion in allen Lebensbereichen: Nike oder Adidas, Coca Cola oder Pepsi, MTV oder Viva umgeben das jugendliche fashion victim wie Zuckerwatte. Wie man sich den Kuchen aufteilt, ist Verhandlungssache.

Vor die Erkenntnis hat der liebe Gott allerdings den Schweiß gesetzt, vor den spannenden MTV-Insiderbericht der Herausgeber Klaus Neumann-Braun den Theorieteil. Darin wird noch einmal, am Gegenstand des Michael Jackson-Videos "Black or White", das ganz große Faß aufgemacht: apokalyptische Kulturindustrie-These vs. Cultural Studies, Manipulationsverdacht vs. autonomes Pop-Subjekt. Wir erfahren u. a., daß die "Hypothese des Non-Subjekts" auf der Überlegung fußt, "wonach in der Gegenwart die Signifikanten ein Übergewicht über die Signifikate erworben haben, d.h. autologisch und ohne Referenz auf den Gegenstand prozedieren", daß hingegen "die postmoderne Analyse fehl" geht, "wenn sie Subjekten eine Option auf das sinnfreie Prozedieren von Zeichen (Genießen) zuschreibt".

Man kann das kaum nacherzählen, man muß es eigentlich am eigenen Leib nicht verstanden haben. Erstaunlich genug, stellt sich mit einer gewissen Distanz das behagliche Gefühl einer Ahnung dessen ein, was gemeint sein könnte, und daß man das auch einfacher hätte ausdrücken könnte. So gerüstet, kann man sich dem Aufsatz über Viva zuwenden, der nach dem MTV-Schema verfährt und ein gewisses Manko des Buches offenbart: den frühen Redaktionsschluß im Februar 1998. Die alte Tante Suhrkamp geht im Lektorat bekanntlich gemächlich zu Werke, was, im Wissenschaftsbereich an und für sich angemessen, hier aber mit der Schnellebigkeit des Gegenstandes kollidiert.

Zwar wird die Anfangsgeschichte von Viva mit allen Machenschaften akribisch und kritisch aufgerollt: Noch deutlicher als MTV war Viva von Anfang an der verlängerte Arm der Plattenindustrie: Vier der fünf weltweit größten Major-Labels halfen, Viva zu lancieren und sind bis heute an der Finanzierung beteiligt. Viva-Chef Gorny wird als der dubios schillernde Zampano porträtiert, der er wohl ist: vom Musikpädagogen über das NRW-Rockbüro zur "sozialdemokratischen Antwort auf MTV".

Wenn es um die Gegenwart geht, wird die Materiallage dafür merklich dünner, und die entscheidenden Einträge zur Erhärtung des SPD-Filz-Verdachtes fehlen. Ebenso Gornys Ambitionen, tatsächlich in der großen Politik mitzumischen, die mit dem SPD-Wahlsieg eine reale Perspektive erhalten haben. Sein legendäres Coming-out Ende 1998 im Zeit-Magazin ("Okay, 'Cool Germany', laß uns richtig krawumm machen") fehlt ebenfalls.

Um ein genaueres Bild des aktuell von Gorny angepeilten Crossovers von Pop-Industrie und Politik zu erhalten, muß man deshalb schon René Martens' Beitrag in der aktuellen Beute hinzuziehen, der ein wenig Licht in den Gesamtkomplex aus Viva, PopKomm, Kanzlerberatung und NRW-Strukturförderung bringt. Das deutsche Viva ist danach nur Drehscheibe im größenwahnsinnigen Gesamtsystem Gorny, das laut Selbstauskunft "erst dann ansatzweise fertig (ist), wenn wir das Viva-Logo auf den Viacom-Tower in New York pressen". Dazu paßt die aktuelle Deutschrockquote auf Viva von 40 Prozent.

Lutz Hachmeister und Jan Lingemann können in ihrem Beitrag allerdings nur Mutmaßungen anstellen, wobei ihnen auch ein paar Fehler unterlaufen, z.B. mit der Aussage, daß "der WDR 1999 mit einem TV-Ableger seines erfolgreichen Radiosenders Eins Live auf Sendung" ging. Meist liegen sie jedoch richtig, etwa, was die Einschätzung der TV-Zukunft und Gornys langen Atem anlangt: "Viva ist eine sozialdemokratische Integrationsleistung, und deshalb kann es für Gorny ruhig noch eine Weile dauern, bis sich der Fernsehmarkt durch digitale Techniken und Pay-Bouqets weiter parzelliert. Solange der Sender weiter expandieren kann, stört es ihn nicht, daß der Altersabstand zwischen ihm und dem Viva-Zielpublikum naturgegeben immer weiter wächst."

Daß der Sender strukturkonservativ ist, konnte selbst Ex-Moderatorin Heike Makatsch nicht verborgen bleiben, die mit dem Satz zitiert wird: "Viva zählt sicher, wie auch Bravo, zu den Teilen der Popkultur, die Bestehendes bestehen lassen und nicht gerade umwälzen." Wer sich jemals gefragt hat, wie es eigentlich kommt, daß manche Videos in heavy rotation viermal am Tag laufen, andere dagegen nie, wird hier eine Antwort finden: Verantwortlich zeichnet die mit Musikmanagern besetzte Programmkommission: "Das Wochenrepertoire von Viva - Spezialsendungen nicht mitgerechnet - besteht insgesamt also nur aus 80 Clips. Wirtschaftlich macht die geringe Anzahl Sinn: Weniger Clips bedeuten eine größere Rotationshäufigkeit, und die entscheidet letztlich über den Erfolg des Titels."

Der dritte Teil des Buches, in dem einzelne Videos analysiert werden, krankt ebenfalls an der Inaktualität. So hätte man Ramona Currys interessante, an Frederic Jameson entwickelte Diskussion entlang der Frage "Pastiche oder Parodie?" lieber am Prodigy-Video "Smack My Bitch Up" festgemacht gesehen als an alten Madonna-Clips. Der Artikel stammt von 1991. Eva Schmidts Beitrag dagegegen, der eben dieses Prodigy-Video zum Thema hat, beschränkt sich weitgehend auf bloße Nacherzählung des Clips, in dem die Geschlechterrollenklischees auf den Kopf gestellt werden. Da sie jedoch den entscheidenden Fakt der subjektiven Kamera unerwähnt läßt - erst beim finalen Blick in den Spiegel wird die weibliche Identität der Hauptfigur aufgedeckt -, ist der Text für Leser, die das Video nicht vor Augen haben, gänzlich unverständlich.

So ließe sich noch eine Weile weiter herummäkeln, z. B. an der aufgeblasen betulichen Suhrkamphaftigkeit einzelner Beiträge, vor allem des zahlen- und faktenhuberischen Schlußartikels, bei dem unterm Strich herauskommt, "daß Musikvideos für den Alltag der Jugendlichen von erheblicher Bedeutung sind". Aber wozu, muß man fragen, wenn man auch einfach Buch Buch sein lassen, den Fernseher einschalten und - so man es denn empfängt - Viva oder MTV mit etwas anderen Augen sehen kann?

Klaus Neumann-Braun (Hg.): Viva MTV! Suhrkamp, Frankfurt/M. 1999, 351 S., DM 24,80