Easy Going in Ankara

Außenminister Fischer setzt auf ein rechtsstaatliches Verfahren für PKK-Funktionäre, die türkische Regierung auf eine EU-Anwärterschaft. Beides muß nicht sein

Die Opposition tobte. Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit, Minderheitenschutz - geradezu jede Errungenschaft bürgerlicher Demokratien würden dem Staat zwischen Bosporus, Kaukasus und Taurus abgehen. "Zwei bis drei Generationen" - also 50 bis 75 Jahre - werde es dauern, so schimpfte der Oppositionssprecher, bis diese Bedingungen erfüllt seien. Vorher sei an eine Aufnahme in die EU nicht zu denken. Und kaum war der Landesgruppen-Chef der bayerischen Christenunion, Michael Glos, seine fulminante Anklage gegen den türkischen Staat losgeworden, da legte schon sein Kollege, der CDU-Abgeordnete Friedbert Pflüger, nach: "Wodurch hat die Türkei denn eine Änderung der deutschen Haltung eigentlich verdient?"

Eine gute Frage. Außenminister Joseph Fischer jedenfalls nannte vor allem einen Grund, als er vergangene Woche nach Ankara reiste: "Es liegt im europäischen Interesse, die Türkei nicht wegdriften zu lassen." Und im deutschen. Gilt es doch, den Einfluß Richtung Osten zu sichern oder etwa den Weg für Waffenlieferungen freizumachen, den einst Fischers Partei der türkischen Regierung verbauen wollte. Heute opponiert die Union. Freilich weniger gegen die Lieferung jener 1 000 Leopard-Kampfpanzer, für die man derzeit in Ankara Interesse zeigt, als gegen die Aufnahme des türkischen Staates in die EU.

Dafür hat sich Gerhard Schröder bereits beim Kölner EU-Gipfel stark gemacht. Spätestens, wenn sich die Europäer Ende des Jahres in Helsinki wiedertreffen, soll die türkische Anwärterschaft beschlossen werden. Der Kanzler ist zuversichtlich: Trotz fehlender Menschenrechtspolitik, Streitigkeiten im türkisch-griechischen Verhältnis, Zypern-Konflikt sowie dem Krieg in Kurdistan kündigte Schröder im Bundestag an, er werde der Türkei einen "klaren Zeitplan für ihre Heranführung an die Union" anbieten.

Vorbei also die Zeiten, in denen sich Ankara, wie beim Luxemburger EU-Gipfel 1997, von einem unionsregierten Deutschland in die Schranken weisen lassen mußte. Vorbei aber auch die Zeiten, in denen der Anschluß an Europa in der Türkei ein innenpolitisches Thema ersten Ranges bildete. Obwohl Fischer letzte Woche die deutlichste Offerte für eine EU-Mitgliedschaft seit dem Assoziationsabkommen von 1963 mitbrachte, reagierten politische Führung und Öffentlichkeit bestenfalls mit skeptischer bis wohlwollender Zurückhaltung.

Seit dem Affront von Luxemburg, als die EU der Türkei noch nicht einmal den Status eines Beitrittskandidaten zugestand, gibt man sich auf türkischer Seite verhalten. Diese Erinnerung ist zu gegenwärtig, als daß man allein auf Fischers Versprechen große Hoffnung setzen würde. Die türkische Presse registrierte zwar, daß sich unter der rot-grünen Regierung der Tonfall gebessert habe und sprach von "neuem Wind in den deutsch-türkischen Beziehungen" oder von "positiven Anzeichen eines Wandels". Allerdings müsse Deutschland, so brachte die Tageszeitung Milliyet die Vorbehalte auf den Punkt, erst die "Aktivitäten der PKK im eigenen Land nachhaltig" unterbinden und ein Machtwort gegen die griechische Blockade sprechen.

Selbstbewußt gab sich auch der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses des Türkischen Parlaments, Kamran Inan: Die EU-Mitgliedschaft habe für die Türkei keine Priorität mehr. Der Gipfel von Helsinki sei, so Inan, die letzte Chance, die man Europa gewähre. Deutlicher wurde der Außenminister Ismail Cem: Wenn sich in Helsinki kein Status der Anwärterschaft ergeben sollte, werde die "Türkei ihre Beziehungen zur EU wohl auf ein Minimum reduzieren.

Ministerpräsident Bülent Ecevit hatte bereits Ende Mai im Vorfeld der Kölner EU-Gipfels in einem Brief an Schröder mitgeteilt, die Türkei sei sich bewußt, daß sie "bis zur Erreichung der EU-Standards auf vielen Gebieten Reformen durchführen" müsse. Eine während der kommenden Präsidentschaft eröffnete konkrete Beitrittsperspektive könne den Reformprozeß beschleunigen.Nach dem Treffen mit Fischer ließ Ecevit wissen, die Türkei habe ihre Bereitschaft signalisiert, nun sei Europa am Zug.

Die Gelassenheit, mit der man auf türkischer Seite agiert, ist so verwunderlich nicht. Schließlich weiß man in Ankara, daß das gegenseitige Interessensgeflecht sich nicht einfach auflösen wird. Seien es die mehr als zwei Millionen türkischen Staatsangehörigen, von denen eine stetig wachsende Zahl die deutsche Staatsbürgerschaft erwirbt, sei es der gegenseitige Außenhandel - Deutschland ist der wichtigste Handelspartner der Türkei -, zuviel verbindet die beiden Staaten.

Die Frage stellt sich anders herum: Muß diese Abhängigkeit zwingend zu einer EU-Mitgliedschaft führen? Nach Meinung der englischsprachigen Turkish Daily News ist die politische Elite der Türkei an einem EU-Beitritt nicht wirklich interessiert. Die Kopenhagener Beitrittskriterien, die eine "gesonderte Betonung auf Demokratie, Menschenrechte und Minderheitenrechte" legten, würden der Türkei den willkommenen Grund liefern, "in Distanz zu Europa zu verbleiben". Ähnlich die Ecevits Partei nahestehende Tageszeitung Cumhuriyet: "Fischer nährt Hoffnungen, ohne konkret zu werden. Die Türkei hat aber keine Geduld mehr für die Hinhaltetaktik des Westens."

Der Streitpunkt der Beziehungen bleibt der Kurden-Konflikt. Stellvertretend für den Großteil der türkischen Öffentlichkeit entgegnete Staatspräsident Süleyman Demirel auf Fragen Fischers mit der altbekannten Formel: "Es gibt kein Kurden-Problem, es gibt ein Terror-Problem." Daß man sich hier nicht reinreden lassen will, hat die türkische Regierung mit der Entführung des ERNK-Mannes Cevat Soysal zum Ausdruck gebracht. Etwa zeitgleich mit Fischers Aufbruch nach Istanbul informierte Ecevit die Öffentlichkeit, der türkische Geheimdienst MIT habe die "Nummer zwei" der europäischen PKK-Führung festgenommen. Soysal, der von 1980 bis 1987 im Gefängnis von Diyarbakir inhaftiert war, ist seit 1995 als politisch Verfolgter in Deutschland anerkannt und lebt mit seiner Familie in Mönchengladbach. Anfang Juli war der Mitarbeiter der ERNK-Europavertretung nach Moldawien gereist, elf Tage später verschleppte ihn der MIT. Die genauen Umstände seiner Verschleppung sind bisher nicht geklärt.

Fischer ließ sich von dem guten Timing nicht aus dem Konzept bringen. Ebensowenig von den provokativ zur Schau gestellten deutschen Reisedokumenten, die die Geheimdienstler bei dem Kurden beschlagnahmt hatten. Im Gegenteil. Der Außenminister gab sich in Ankara sicher: Er gehe davon aus, daß der ERNK-Funktionär eine rechtsstaatliche Behandlung erfahre. Selbst ein von der türkischen Tageszeitung Star veröffentlichtes Foto, das den stark angeschlagenen Soysal, gestützt von Sicherheitsbeamten, nach Verhören zeigt, nötigte Fischer keine Stellungnahme ab. Das Timing war ein deutliches Signal, daß die Türkei nicht um jeden Preis eine EU-Mitgliedschaft anstrebt. Ein Torpedo, mit dem nationalistische Kräfte innerhalb des Apparates gegen eine Europa-Einbindung Front machen wollten, muß die Entführung deshalb aber noch lange nicht darstellen. Man kann die Aktion auch schlicht als Manöver zur Verbesserung der eigenen Verhandlungsposition werten.

Die PKK selbst wertet die Entführung nicht als letztes Wort. Nach deren Bekanntwerden erklärte das Parteipräsidium, man werde "von dem Recht auf Vergeltungsmaßnahmen" Gebrauch machen. Andererseits bekräftigte der Europa-Sprecher der ERNK, Kani Yilmaz, in der prokurdischen Özgür Politika eine abwartende Haltung. Die kommenden Tage, so Yilmaz, werden zeigen, ob die Türkei an "Verleugnung und Krieg festhalten" und auf ein Auseinanderfallen der PKK spekulieren oder den Konflikt "auf eine politische Ebene" tragen werde. Die entscheidende Rolle ortet Yilmaz jedoch nicht in der EU, die über keine eigene Strategie verfüge und auf eine eigene aktive Rolle zugunsten der USA verzichte.