Reform für die Erben

Über die Rentenpläne der Bundesregierung freuen sich vor allem Banken und Versicherungen

"Lügen haben kurze Beine." Über diese neue Erkenntnis will die CDU mit einer Briefaktion während der nächsten Wochen möglichst alle Rentner in Deutschland aufklären. Die von Arbeitsminister Walter Riester vorgeschlagene Rentenreform, so scheint es, empört die Christdemokraten zutiefst. Da besinnen sie sich ein weiteres Mal auf die altbewährten Mobilisierungsformen der außerparlamentarischen Opposition. "Schröder will den Rentnern nicht nur eine doppelte Nullrunde zumuten", begründete der Stellvertretende CDU-Vorsitzende Christian Wulff in der Berliner Zeitung die Aktion. "Er will sie zweimal abzocken: durch die Aussetzung der Rentenerhöhung und die gleichzeitige Verteuerung von Strom, Gas und Mineralöl durch die Öko-Steuer. Das führt nicht nur nominal, sondern real zu Einkommenseinbußen."

Zu Einkommenseinbußen hätte freilich auch die von der Union favorisierte Einführung eines "demographischen Faktors", also des Rückgangs der Renten entsprechend der abnehmenden Zahl der Beitragszahler geführt. Damit sollte das Rentenniveau bis zum Jahr 2030 schrittweise von 70 auf 64 Prozent des durchschnittlichen Nettogehaltes gesenkt werden. Die Empörung der Christdemokraten dürfte also eher zweckdienlich als wahrhaftig sein. Immerhin geht es um klassisches konservatives Wählerpotential: Die Rentner sind seit langem das Viertel der Bevölkerung, in dem die CDU am sichersten Stimmen rekrutieren kann.

Mit Norbert Blüm an der Spitze, der überzeugend die Botschaft vermittelte, daß ihm jede Rentnerin und jeder Rentner persönlich am Herzen liege, schaffte es die CDU sogar, einige Rentenkürzungen politisch durchzusetzen, ohne nennenswert Stimmen bei der Altersgruppe über 65 zu verlieren. Dies lag allerdings auch daran, daß sich die SPD immer auf den sogenannten Rentenkonsens, also auf die Zustimmung zu den Rentenreformen im Bundestag, verpflichten ließ. Das änderte sich erst, als die CDU 1997 den "demographischen Faktor" in die Rentenberechnung einführte. 2030, dachten sich die Konservativen, ist ja noch weit, und welcher heutige Rentner interessiert sich schon für einen so fernen Zeitpunkt? Ein künftiger Rentenbezieher, der heute 34 ist, wird sich eher auf sinkende Beiträge zur Rentenversicherung freuen.

Die SPD bündelte den dennoch aufkommenden Protest und kam mit dem Versprechen an die Regierung, die Renten-Reform kurz vor ihrer geplanten Umsetzung 1999 wieder rückgängig zu machen. Sie löste ihre Zusage ein, den "demographischen Faktor" außer Kraft zu setzen. Doch nun schlägt Gerhard Schröders parteiloser Wirtschaftsminister Werner Müller eine neue Art der Rentensenkung vor: die Angleichung der Renten in den Jahren 2000 und 2001 an die Inflationsrate statt an die Nettolöhne.

In den achtziger Jahren gab es Zeiten, da hätten die Rentner über einen solchen Vorschlag gejubelt: Als Nullrunden in der Tarifpolitik steigenden Lebenshaltungskosten gegenüberstanden, während die Rentner wegen der Ankoppelung an die Löhne wie die Arbeitnehmer reale Verluste hinnehmen mußten. Im Moment übersteigen jedoch die Lohnzuwächse die sehr niedrige Inflationsrate. Durch eine geringere Anpassung könnte zwei Jahre lang viel Geld in der Rentenversicherung gespart werden, und auch die Erhöhungen der folgenden Jahre gingen dann von einem niedrigeren Niveau aus.

Durch die Anpassung an die Nettolöhne wird das Rentenniveau kurzfristig stärker absinken als durch die von der CDU geplante Reform - das muß auch die SPD zugeben. Sie betont aber, langfristig - also ungefähr 2030 - werde das Rentenniveau höher liegen. Wenn es bei der zweijährigen Aussetzung der Rentenanpassung an die Nettolöhne bleibt, ist das zwar richtig. Doch für die Regierung liegt der große Charme dieser Maßnahme darin, daß sie bei Bedarf auch noch um einige Jahre verlängert werden kann. Kurzfristige finanzpolitische Notmaßnahmen haben eine gewisse Tendenz, über die versprochene Dauer hinaus in Kraft zu bleiben. Auch der Solidaritätszuschlag sollte ja eigentlich schon seit Jahren nicht mehr erhoben werden.

Weil die Rentnerinnen und Rentner ahnen, auf was Riesters Vorschlag hinauslaufen könnte, ist die Empörung groß - zumindest auf den Leserbriefseiten der Zeitungen. "Was bleibt nach einem langen Arbeitsleben? Verbitterung und Resignation!" schreibt ein Leser der Mittelbayerischen Zeitung. Weil auch viele SPD-Politiker den Wählerzorn fürchten, haben sich einige von der Bundesregierung distanziert. Reinhard Klimmt, Lafontaine-Intimus und Ministerpräsident des Saarlandes, hat sich mit der Union solidarisiert und ihr Unterstützung im Bundesrat angeboten. Auch Rainer Brüderle, Wirtschaftsminister in Rheinland-Pfalz und einer von drei FDP-Vertretern im Bundesrat, drohte, das Gesetz im Länderparlament "zu blockieren".

Den Schritt über die Grenze zur Idiotie tat Kurt Beck - als SPD-Ministerpräsident Brüderles Koalitionspartner in Mainz -, der forderte, man solle die Reallöhne ebenfalls nur gemäß der Inflationsrate steigern, um die Sozialversicherungen finanziell zu konsolidieren. Da die Renten von den Beiträgen aus Lohneinkommen abhängen, würde dies die Finanzkrise in der Rentenversicherung verstärken. Glücklicherweise ist es auch gar nicht möglich, die Löhne an die erst in Zukunft feststellbare Inflationsrate anzukoppeln. Nur bei den im jeweils folgenden Jahr steigenden Renten ist eine solche Methode rechnerisch umsetzbar.

Die verbreitete Verwechslung der rein hypothetischen Größe Rentenniveau mit der tatsächlich ausgezahlten Durchschnittsrente nutzten auch ostdeutsche Politiker in den vergangenen Wochen für populistische Vorschläge. Sie fordern unter Verweis auf die niedrigere Standardrente in Ostdeutschland, diese müsse nun endlich an das westdeutsche Niveau angeglichen werden.

Die Botschaft kam an. "Die Rentner der neuen Bundesländer warten immer noch, daß die Renten endlich denen der alten Bundesländer angeglichen werden!" schreibt ein empörter Rentner aus Magdeburg in der Volksstimme. "Wieviele Jahre soll das noch dauern, daß wir im künstlichen Armenhaus als Menschen 2. Klasse leben?" Würde seine Rente dem realen westdeutschen Niveau angeglichen, wäre er vermutlich ziemlich unangenehm überrascht. Unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Preisniveaus in Ost- und Westdeutschland erreichen nach einer Berechnung des Ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung ostdeutsche Rentner sogar 120 Prozent der westdeutschen Durchschnittsrenten.

Die einzigen, die wirklich zufrieden sind mit den Reformplänen der Bundesregierung, sind die Banken und Versicherungen. Der Chefvolkswirt des Deutschen Bank, Norbert Walter, hat die CDU öffentlich abgemahnt, ihre Kampagne gegen die Rentensenkungen einzustellen, denn sie sei "nicht hilfreich"; auch die CDU habe "kein ausreichendes Rentenmodell". Selbst der Bundesverband deutscher Banken hat seine Unterstützung für die Reformpläne erklärt.

Durch die Ankündigung der Besteuerung von Kapitallebensversicherungen, die dann auf Druck der Versicherer wieder zurückgenommen wurde, hat die Regierung in den letzten zwei Wochen bereits einen Boom an Abschlüssen von Lebensversicherungen erzeugt. Banken und Versicherungen können sich freuen, daß Riesters Rentenreform die Deutschen nötigt, privat zu sparen. War die private Vorsorge zunächst als Zwangsabgabe geplant, will Riester sie nun ohne direkten Zwang erreichen. Erstmals propagiert damit eine Bundesregierung, daß der privaten Vermögensanlage mehr zu trauen sei als der gesetzlichen Rentenversicherung.

Dabei nimmt sie in Kauf, daß bestimmte Gruppen der Bevölkerung bei der privat finanzierten Altersvorsorge strukturell schlechter behandelt werden. Frauen erhalten aufgrund ihrer höheren Lebenserwartung bei gleichen Beiträgen grundsätzlich eine geringere private Rente. Und Behinderte sowie Menschen mit bestimmten chronischen Krankheiten werden von privaten Versicherungen generell nicht gegen Erwerbsunfähigkeit versichert, weil denen das Risiko zu hoch ist. Am besten fährt mit der privaten Vorsorge derjenige, der sie am wenigsten braucht: der männliche Durchschnittsverdiener. Und noch mehr seine Erben, die den verbliebenen Rest des Ersparten nach seinem statistisch frühen Tod verprassen können. Denn eines, das hat Schröder versprochen, soll unangetastet bleiben: die Erbschaftssteuer.