"Hilary & Jackie"

Celli & Chicken

Wie reagiert ein Mann, wenn ihn seine Frau darum bittet, mit ihrer äußerst attraktiven Schwester für eine Nacht ins Bett zu steigen? In Anand Tuckers Familiensaga "Hilary & Jackie" sieht das so aus: Zunächst reagiert er, als sollte er eine Flasche Lebertran auf Ex stürzen, um kurz darauf zähneknirschend doch zum ehelich sanktionierten Seitensprung anzusetzen, natürlich ganz ohne Lustgewinn.

Und als er die ermattet in den Kissen liegende Schwester schließlich wieder verläßt, kehrt er zurück in den Schoß der Familie, als wäre nichts geschehen. Eine Art Verkehrsunfall ohne Folgen. So viel Drama, so wenig Konflikte. "Hilary & Jackie" wirft einen verklärenden Blick auf die "wahre Geschichte" des musizierenden Geschwisterpaars du Pré.

Die kleine Hilary (Rachel Griffiths) und ihre Schwester Jackie (Emily Watson) räumen kräftig ab. Die eine an der Flöte, die andere am Cello: Bei jedem Nachwuchswettbewerb zwischen London und Glasgow gehen die ersten Preise in langweiliger Regelmäßigkeit an die Wunderschwestern. Bald wird aber klar, daß nur eine das Zeug zum wirklich großen Star hat: Jackie.

Während sie von Erfolg zu Erfolg um die halbe oder ganze Welt tourt, richtet sich Hilary ein Leben mit Ehemann und Kindern ein. "It's all chickens and kids", kommentiert Jackie spöttisch auf einem ihrer kurzen Stopps zwischen Moskau und Los Angeles. Und doch schwingt da auch Neid mit. Sie selbst erntet nach der Heirat mit dem (von James Frain mit stoischer Entrücktheit dargestellten) Pianisten Daniel Barenboim zwar noch mehr Ruhm, Ehre und Geld - aber Glück? Nein. Daraufhin versucht sie, sich in das Leben ihrer Schwester zu drängen und will alles mit Hilary teilen, sogar deren Mann. Als diese Affäre scheitert, entzweien sich die beiden. Auch dann noch, als Jackie an Multipler Sklerose erkrankt.

Genies auf der Leinwand sind ein Kapitel für sich: Als Durchschnittshelden taugen sie nur bedingt - dafür trennt sie ihr außergewöhnliches Talent von der Masse. Um den Neidfaktor auf ihr Können niedrig zu halten, setzen viele Drehbücher auf den Mitleidsbonus. "Hilary & Jackie" ist da keine Ausnahme: Die Cellistin Jackie posiert zwar regelmäßig für die Titelseiten der großen Illustrierten, fristet aber privaterseits ein kümmerliches Dasein. Und outet sich zudem nach wenigen Minuten als unangenehme Exzentrikerin mit Hang zur schweren Krankheit.

So oder ähnlich funktionierte das auch in "Shine", "Amadeus" oder dem in seiner Art ebenfalls gelungenen "Forrest Gump". Alle, Geoffrey Rush, F. Murray Abraham und Tom Hanks haben dafür einen Oscar eingefahren. Und eine versuchte Oscar-Nummer ist auch Emily Watsons Darstellung. Zwischen himmelhoch jauchzend und zu Tode betrübt, gibt sie alles, was angegraute Academy-Mitglieder zu Herzen rührt. Doch Emily Watson wirkt nicht nur wie aufgedreht, sondern auch reichlich überkandidelt.

Auch das "Production Design" von Alice Normington neigt zu unfreiwilliger Komik. Ohne jede Ironie sieht Jackies Wohnung aus wie eine neonbeleuchtete Leichenhalle. Und um Hilarys Glück zu untermalen, laufen in ländlicher Idylle ständig Hühner und Schweine durchs Bild. Hat da jemand vor lauter Weichzeichner nicht mehr gesehen, was sich vor der Kamera abspielt?

"Hilary & Jackie", GB 1998, R: Anand Tucker, B: Frank Cottrell Boyce, D: Emily Watson, Rachel Griffiths, David Morrissey, James Frain. Start: 5. August