Tod eines Musterschülers

Vor seinem Abgang hat der marokkanische König Hassan II. rasch noch seine politische Erbfolge geregelt

Einige Staatsgäste fielen sogar in Ohnmacht - nicht wegen der Trauer um den verstorbenen marokkanischen König Hassan II., sondern wegen der Hitze. Insgesamt waren es rund 30 Staatsoberhäupter, die sich am vorletzten Sonntag in der marokkanischen Hauptstadt Rabat um die aufgebahrte Leiche von Hassan II. tummelten. Im Alter von 70 Jahren und nach 38jähriger Regentschaft war das Oberhaupt der, wie es in Marokko offiziell heißt, "konstitutionellen Monarchie von Gottes Gnaden", zwei Tage zuvor an einer Lungenembolie verstorben.

Besonders bedrückt zeigte sich der französische Staatspräsident Jacques Chirac, der sich gerade auf einer Tour durch vier afrikanische Staaten befand. Er verärgerte seine nigerianischen Gastgeber, indem er wegen Hassan II. eine offizielle Zeremonie abkürzen ließ. Wie andere französische Politiker und führende Journalisten auch, hatte Chirac sich gerne von der marokkanischen Monarchie einladen und sich von ihr gar einen großzügig bemessenen Landbesitz schenken lassen.

Hassan II. war für große Teile der politischen Klasse und vor allem der politischen Rechten in Frankreich "Unser Freund, der König". So lautet auch der Titel eines Buchs des linken Schriftstellers Gilles Perrault, das 1990 für vorübergehende Spannungen im diplomatischen Verhältnis zwischen Paris und Rabat sorgte. Perrault zeichnet darin das Bild einer offiziellen Pariser Protektion für einen Despoten und Folterherrn, der aus Gründen der Staatsräson und neokolonialen Machtpolitik beschützt wurde.

Tatsächlich war das seit 1956 formal unabhängige Marokko samt seinem König der "beste Schüler" unter den Ländern der postkolonialen Pariser Einflußsphäre im frankophonen Afrika - vor allem im Hinblick auf den Nachbarstaat Algerien, das nach einem achtjährigen blutigen Kolonialkrieg 1962 die Unabhängigkeit erlangte. Alle Voraussetzungen in den beiden Ländern waren gegensätzlich.

Algerien war nach seiner Eroberung von Frankreich (1830) als Siedlungskolonie genutzt worden. Dies machte eine eigenständige algerische Entwicklung unmöglich. Um so radikaler waren die Auswirkungen der Versuche, nach der Entkolonialisierung eine Identitätspolitik auf den Grundlagen einer kaum vorhandenen Geschichte zu betreiben.

Marokko hingegen hatte keinen Kolonial-, sondern einen Protektoratsstatus, und den auch gleich unter zwei Mächten - Frankreich und Spanien. Unter deren Oberherrschaft blieb die traditionelle feudale Gesellschaft weitgehend intakt.

Eine auf mehr als 1 000 Jahre Tradition zurückblickende Monarchie regiert bis heute das nordafrikanische Land. Die Dynastie der Alouiten, die sich als Nachfolger des Propheten Mohammed betrachten, beanspruchten neben der weltlichen Macht auch den religiösen Autoritätstitel des "Befehlshabers der Gläubigen" für sich. Im Gegensatz zum antikolonial-antiimperialistisch inspirierten Revolutionsregime in der frühen Zeit der Unabhängigkeit Algeriens, war die Entkolonialisierung in Marokko nie von "sozialistischen Experimenten" begleitet.

Für Frankreich als neokoloniale Hegemonialmacht in Afrika war das Land besonders als Drehscheibe für militärische und geheimdienstliche Aktionen in der "Dritten Welt" von großer Bedeutung. So beteiligte sich Marokko zum Beispiel seit 1977 bei mehreren militärischen Interventionen im damaligen Zaire.

Marokko galt Frankreich, aber auch den übrigen EG/EU-Staaten und den USA als "Schutzwall" zunächst gegen den antikolonialen "Sozialismus" und Trikont-Nationalismus und später gegen den Islamismus. Dieser schien in Marokko durch eine islamische Orthodoxie eingegrenzt zu werden; in den letzten zwei Jahren häufen sich aber Übergriffe von Islamisten auf linke Studenten.

Der im Westen als "vernünftig und dialogbereit" angesehene Hassan II. agierte in Marokko als Despot. 1965 entführte der marokkanische Geheimdienst mitten in Paris den damaligen führenden Oppositionellen Mehdi Ben Barka - einen Freund Che Guevaras und Fidel Castros. Ben Barka tauchte nie wieder auf. Neben putschfreudigen Militärs und linken Oppositionellen füllten auch immer wieder zahlreiche Namenlose die marokkanischen Gefängnisse.

Unter ihnen waren jene 31 Schüler und Studenten, die 1984 nach Hungerrevolten eingesperrt wurden. 27 unternahmen einen Hungerstreik für das Recht, im Gefängnis studieren und die legale Presse lesen zu dürfen, drei starben dabei. Die anderen nahmen den Hungerstreik 1985 wieder auf. Sechs von ihnen, die dem Hungertod nahe waren, wurden daraufhin in einem Krankenhaus fast fünf Jahre lang mit Handschellen an ein Bett gefesselt und mittels einer durch die Nase eingeführten Sonde zwangsernährt. Ärzten war der Zugang verboten.

Erst nach einer drohenden Blockade durch das Ausland öffnete Marokko nach und nach seine Gefängnisse. 1994 wurden rund 350 politische Häftlinge freigelassen und damit der größte Teil - amnesty international zufolge sind aber immer noch an die 50 politische Gefangene in Haft. Nach Angaben marokkanischer Menschenrechtler starben zwischen 1989 und 1996 24 Menschen auf Polizeiwachen, meist an den Folgen von Folter.

Seit März 1998 regiert in Marokko, mit dem Einverständnis und auf Wunsch von Hasan II., eine Regierung der "demokratischen Öffnung". Sie wird von dem Sozialisten Abderrahmane Youssoufi, Generalsekretär der UFSP (Sozialistische Union der Volkskräfte), geführt. Die Regierung wird von einer Mehrheit aus UFSP, Nationalisten und mehreren vom Königshaus abhängigen Kleinparteien getragen.

Vier zentrale Ministerien allerdings sind dem Zugriff der Regierungsmehrheit entzogen und bleiben den Vertrauten des Throns vorbehalten. Diese Sonderregelung betrifft das Innen-, das Justiz- und das Außenressort sowie das Ministerium für islamische Angelegenheiten. Insbesondere der autoritär-repressive Innenminister Driss Basri, seit 1974 ohne Unterbrechung im Amt, bleibt somit an der Macht.

1993 war eine ähnliche Regierungskonstellation, die bereits damals vom König gewünscht war, daran gescheitert, daß die USFP den Abgang des Innenministers zur Voraussetzung für ihren Regierungseintritt machte. Vor 18 Monaten aber gab sie ihren Widerstand auf und folgte dem Ruf des Königs.

Schon damals rechnete man damit, daß ein Wechsel auf dem Thron in absehbarer Zeit bevorstehen könnte. Die Hindernisse für die angestrebten Modernisierungen und Reformen, so das Kalkül der USFP-Führung, würden dann fallen. Umgekehrt erhoffte sich Hassan II. von der Einbindung der legalen Opposition eine Stabilisierung, die er für den Übergang des monarchischen Systems nach seinem Tod für notwendig hielt.

Von den Absichten des Thronfolgers Mohammed VI. ist nur wenig bekannt. Bei seiner ersten Rede nach der Thronbesteigung versprach er Kontinuität hinsichtlich der "marktwirtschaftlichen Reformen" seines Vaters und der "Bemühungen um den Frieden in der Region". Klar ist darüber hinaus, daß ihn mit dem Innenminister Driss Basri eine persönliche Abneigung verbindet. Dies stellt zumindest den Abgang eines repressiven Hardliners in Aussicht.