Urlaub am Alex

Gefährliche Orte LXVIII: Die Berliner Innenstadt gilt jetzt als Erholungsgebiet. Darum kann man dort auch sonntags einkaufen. Zum Beispiel im Kaufhof am Alex

Am Sonntag mittag drängeln sich die Berliner am Alexanderplatz vor dem Kaufhof, als gäbe es etwas geschenkt. Pünktlich um zwölf haben sich Hunderte vor den Eingängen versammelt, mit Kindern und kurzen Hosen, und als die Türen geöffnet werden, strömen die Berliner in die klimatisierten Hallen.

Umsonst gibt es zwar nichts, aber was es hier alles zu kaufen gibt! Und das am Sonntag! Nappa-Leder-Blousons von 499 Mark auf 299 Mark herunter gesetzt. Monster Magnet-CDs für 12,95. Knallrote und quietschgrüne Kaffeetassen. Das Kaufhaus füllt sich und ist schon nach zwanzig Minuten ungefähr so rappelvoll wie am letzten Samstag vor Heiligabend gegen Mittag. Motzberliner, die sich auf der Rolltreppe drängeln, stöhnen: "Na dit kann ja wohl nich wahr sein." Und ein anderer beschwert sich bei seiner Frau: "Die ham ja überhaupt nich umgeräumt, is ja allet wie immer."

Das stimmt allerdings nicht ganz. Denn in der Lebensmittelabteilung ist das Regal mit den verschiedenen Tee-Sorten abgedeckt, Tee darf, wie ein Schild verkündet "am Sonntag zwischen 12 und 17 Uhr" nicht verkauft werden, ein Teehändler vom Ku'damm hatte mit seiner Klage Recht bekommen. Er hatte moniert, eine Öffnung der Tee-Abteilung würde den Wettbewerb am Berliner Teemarkt verzerren und die Kunden würden schlecht beraten. Allerdings ist er der einzige Berliner Händler, der sich so die Konkurenz vom Hals hält. Denn sonst ist das Sortiment wie immer, vom Lippenstift über Rehrücken bis zum Fahrrad gibt es alles zu kaufen. Nur daß jeder Artikel an der Kasse mit einem kleinen Aufkleber versehen wird, auf dem "Berlin Souvenir" steht und ein kleines Brandenburger Tor gemalt ist.

Touristen kann man allerdings mit der Lupe suchen. Vom Mädchen mit DocMartens-Tretern mit links roten und rechts schwarzen Schnürsenkeln bis zum betrunkenen Frührentner mit T-Shirt in Türkis und kurzer, knallenger grüner Turnhose mit nichts drunter, hat sich hier nur Berliner Kernbevölkerung versammelt. Alles Leute, die hier auch unter der Woche einkaufen gehen, bis auf die, die jetzt in Cafés sitzen oder am See liegen. Sogar bei Dinea, dem Kaufhof-Restaurant unterm Dach, herrscht reger Betrieb. Rentnerpärchen trinken Saft und essen Wiener Schnitzel. Und all das am Sonntag.

Der Ladenschluß hat eine lange Berliner Geschichte. Diverse Ostberliner Spätkauf-Läden, die nach dem Mauerfall überall eröffneten und ihren jeweiligen Kiez bis spät in die Nacht mit Schokolade, Schnaps und Zigaretten versorgten, mußten sich irgendwann einen Mikrowellenherd und eine Tiefkühltruhe mit Speisen der Kette "Heiße Hexe" neben die Verkaufstheke stellen, um als Imbiß durchzugehen, weil sie eigentlich gar nicht mehr geöffnet haben durften.

Aber das war nur der Anfang. Als nächstes trat der Putzkolonnen-Großunternehmer Dussmann auf den Plan. Er hatte ein Grundstück in bester Lage am Bahnhof Friedrichstraße gekauft und dort seine Büros angesiedelt. Die Mietpreise entwickelten sich jedoch anders als erwartet, und so eröffnete er kurzerhand im Erdgeschoß ein "Kulturkaufhaus". Weil es davon aber schon einige gab, brauchte er einen besonderen Medien-Gag, um sein Haus bekannt zu machen. Er wählte die längeren Öffnungszeiten und machte sich dabei eine Gesetzeslücke zunutze. Leitende Angestellte dürfen nämlich länger verkaufen. Also beförderte er einige seiner Verkäufer und stellte sich selbst hinter die Kasse. Der nächste war der Tabakhändler Wolff in den Potsdamer Platz Arkaden. Er öffnete seinen Laden länger als erlaubt und handelte sich Strafen ein, was er aber märtyrergleich beglückt auf sich nahm.

Mittlerweile hat der Berliner Senat im Bundesrat einen Gesetzentwurf eingebracht, das Ladenschlußgesetz zu ändern und es Läden zu gestatten, von 6 bis 22 Uhr zu öffnen, allerdings nur von Montag bis Samstag. Und in Berlin selbst hat er die gesamte Innenstadt zu einer Zone erklärt, in der auch sonntags Produkte des touristischen Bedarfs verkauft werden dürfen. Tabakhändler Wolff kann nun ganz regulär sonntags verkaufen. Und so deklarierte der Kaufhof am Alexanderplatz einfach seine Ware in Berlin-Souvenirs um.

Und die Kunden stehen zwischen den Regalen und wissen gar nicht so genau, warum sie jetzt hergekommen sind. Souvenirs brauchen sie keine. Kinder stehen ratlos neben den Rolltreppen und fragen ihre Mütter: "Was jetzt?" und bekommen ein ratloses "Weeß nich, wir können ja mal beim Spielzeug gucken" zur Antwort, und eben dort, vor dem Regal mit den Revell-Bausätzen für Kampfhubschrauber und Langstreckenbomber, plaziert ein Vater seinen Sohn: "Willste Dich nich umgucken, ick hol dir nachher wieder ab." Andere allerdings lassen Dutzende von Sockenpaaren auf die Verkaufstheken fallen, zücken ihr Portemonnaie und sagen zu ihrem Mann: "Ick bin mit Koofen noch schlimmer wie du."

Vor den Umkleidekabinen ziehen sich die Schlangen so sehr in die Länge, daß das Publikum anfängt, sich im Verkaufsraum zwischen den Kleiderständern umzuziehen. Es ist ja nicht nur verkaufsoffener Sonntag, es ist auch das erste Sommerschlußverkaufs-Wochenende. In der Turnschuhabteilung und bei den Rollerblades drängeln sich die Familien, als habe es kein Gestern gegeben und als gäbe es auch kein Morgen.

50 000 Kunden sind es, die sich durch das Kaufhaus drängeln, und das in nur fünf Stunden, wesentlich mehr als sonst an einem normalen Verkaufstag mit normalen Öffnungszeiten. Da kann man auch ein Zwangsgeld von 50 000 Mark verschmerzen, das dem Kaufhof vom Landesamt für Arbeitsschutz aufgebrummt wird, deren Mitarbeiter leicht angesäuert zwischen all den Kaufwütigen böse Miene zum illegalen Spiel machen. Vor dem Kaufhof haben sich ein Dutzend Aktivisten von der Gewerkschaft Handel, Banken und Versicherungen (HBV) aufgebaut, die mit Schildern um den Bauch und unter dem Motto "Kevin allein zu Haus" gegen die Sonntagsarbeit protestieren.

Trauben haben sich gebildet, es wird wild diskutiert. Eine Frau Mitte Dreißig hält einem der Gewerkschafter eine Kaufhof-Tüte mit ein paar T-Shirts unter die Nase und sagt: "Hab ick für meinen Sohn jekooft, hätt ick sonst nich koofen können." - "80 Stunden Öffnungszeit pro Woche reichen nicht aus zum Einkaufen, das kannst du mir nicht erzählen." - "Nee, ick muß immer arbeiten, 12 bis 14 Stunden am Tag." - "Das ist gegen jedes Gesetz." - "Is aber so." - "Habt ihr keinen Betriebsrat?" - "Nee. Scheiß Gewerkschaften." - "Ja, fühlst du dich gut, wenn die Arbeitgeber mit dir machen was sie wollen? Wir können nur Leuten helfen und Sachen organisieren, wenn ihr das wollt, ihr seid die Gewerkschaften!" - "Du hast Probleme."

Und weg ist sie, Tüte unterm Arm, auf dem Weg zur U 8, die nach Kreuzberg und Neukölln fährt oder in den Wedding.