Die große Versuchung

Seit dem rot-grünen Regierungsantritt ist das deutsch-französische Verhältnis zunehmend angespannt

Er werde die Anliegen seiner Nation "mit mehr Selbstbewußtsein" vertreten, hatte Bundeskanzler Gerhard Schröder bereits vor seiner Wahl vollmundig angekündigt. Die Botschaft ist mittlerweile angekommen. In Frankreich wird der Kanzler des "erwachsenen Deutschlands" mit wachsender Skepsis betrachtet, die alte "bonne entente" hat sich unter der rot-grünen Koalition deutlich abgekühlt.

Der Rücktritt Oskar Lafontaines, das Gerangel um die deutschen EU-Beitragszahlungen oder das Schröder / Blair-Papier waren nur die spektakulärsten Zeichen für die zunehmenden Spannungen zwischen den beiden Regierungen. Eine "gefährliche Entwicklung", wie Alt-Bundeskanzler Helmut Schmidt vergangene Woche in der Zeit konstatierte.

Dabei glaubte die französische Elite lange Zeit, die aufstrebende westdeutsche Wirtschaftskraft durch die bedeutendere Rolle Frankreichs auf der politischen und militärischen Ebene ausgleichen zu können. Mit der Wiedervereinigung wurde dieses Gleichgewicht jedoch nachhaltig erschüttert. Deutschland erhielt wieder seine volle Souveränität, im Osten und Südosten Europas öffnete sich ein neuer Wirtschaftsraum, den die Deutschen tendenziell alleine auszunutzen gedachten.

Hinzu kam der "Aufbau Ost", den Bonn weitgehend alleine finanzierte. Und dafür ließ die BRD ihre Muskeln spielen. Die Bundesbank erhöhte die Leitzinsen, die Mark wurde dadurch als Anlagewährung für spekulatives Kapital besonders attraktiv; zugleich aber drosselte die mit Beginn der neunziger Jahre einsetzende deutsche Hochzinspolitik über Jahre hinaus die wirtschaftliche Konjunktur in Westeuropa.

In Frankreich wurde in dieser Zeit erstmals die politische Anbindung an Deutschland angezweifelt: Die Ausrichtung auf eine so viel stärkere ökonomische "Maschine" sei auf die Dauer ruinös und auch aus sozialpolitischen Gründen nicht zu verantworten.

Die politischen Entscheidungszentren auf beiden Seiten des Rheins allerdings hielten weiter Kurs auf eine "Partnerschaft", die auf lange Sicht hinaus stabil sein sollte. Mit dem Regierungswechsel in Bonn im Oktober 1998 aber kehrten in Paris die Befürchtungen zurück, daß die potentielle Hegemonialmacht in Europa ihren bisherigen Bindungen entwachsen und an längst vergangen geglaubte Phasen ihrer Geschichte anknüpfen könnte.

Mit Gerhard Schröder verband das französische Establishment die Erwartung, daß er möglicherweise eine stärker "nördlich" und "östlich" orientierte Politik verfolgen, Paris als privilegierten Partner durch Großbritannien ersetzen und die nationalen Interessen Deutschlands rücksichtsloser durchsetzen werde als früher. Der Diskurs über die "natürlichen Gemeinsamkeiten" unter Sozialdemokraten und die gemeinsamen Anstrengungen für die EU-Währungsunion rückten diese Befürchtungen aber zunächst in den Hintergrund.

Insbesondere die brachialen Forderung Schröders nach einer Senkung der deutschen EU-Beiträge oder auch das ignorante Verhalten von Umweltminister Jürgen Trittin gegenüber gültigen Verträgen über die "Entsorgung" des deutschen Atommülls haben jedoch erneut zu wachsenden Spannungen geführt, zumal Deutschland immer weniger die Interessen des wirtschaftlich schwächeren "Partners" zu berücksichtigen schien.

So wurde bei der Fusion der Aktienmärkte von Frankfurt und London die Pariser Börse nicht mit einbezogen, ebenso wie bei der Annäherung zwischen der deutschen Dasa und der britischen Aerospace die französische Flugzeugindustrie kein Thema war. Als Affront wurde auch der "Verrat" der Deutschen Telekom an der französischen Schwestergesellschaft bei dem geplanten Zusammenschluß mit der italienischen Telecom angesehen.

Die Veränderung des deutsch-französischen Verhältnises ist daher eines der wichtigsten innenpolitischen Themen der letzten Monate, was sich auch in zahlreichen Publikationen widerspiegelt. Zunächst erschien Ende 1998 das Buch der französischen Germanistin Yvonne Bollmann, "La Tentation allemande" (Die deutsche Versuchung). Die Autorin - die der "republikanischen Linken" nahesteht und mit den EU-kritischen Gaullisten um Charles Pasqua zusammenarbeitet - beschreibt darin den angeblichen Versuch Deutschlands, die Dominanz über Europa zu erringen. Neben der ökonomischen Potenz spielt hier die Regionalisierung eine große Rolle, die durch die EU - vor allem durch die Strukturförderung - begünstigt wird. Dies schwäche die klassischen Nationalstaaten wie Frankreich, während damit gleichzeitig das föderale deutsche Funktionsprinzip unterstützt würde. Bollmann analysiert diese Tendenz - in Verbindung mit der Förderung sogenannter ethnischer und insbesondere deutschsprachiger Minderheiten in Europa - als einen Versuch, die anderen EU-Staaten zu dominieren.

Ein anderer Publizist, Alain Griotteray, der im Sommer 1999 zusammen mit dem Germanisten Alain de Larsan das Buch "Voyage au bout de l'Allemagne" (Reise ans Ende Deutschlands) veröffentlichte, kommt vom national-konservativen Rechtsaußenflügel. Als Leitartikler im reaktionären Figaro-Magazine zielt seine Kritik vor allem auf die "Führungsschwäche" der französischen Eliten und deren fehlenden Willen, Frankreichs weltpolitische Rolle als ehemalige Kolonial- und aktuelle Militärmacht voll auszubauen. Diese innere Schwäche ist für Griotteray bedrohlich angesichts eines wiedererwachenden preußischen Deutschlands, das wieder die Hegemonie über Osteuropa erlangen will.

Als Beleg hat der Autor ein interessantes Zitat von CDU-Chef Wolfgang Schäuble gefunden, wonach Deutschland notfalls "allein und mit traditionellen Mitteln die Stabilität in Osteuropa sichern" solle. Griotteray erinnert auch daran, daß der Verbindungsoffizier vom Bundesnachrichtendienst zur kosovo-albanischen UCK - Reiner Kesselring - der Sohn jenes Nazigenerals ist, der 1941 die Bombardierung Belgrads befehligt hatte.

Im Gegensatz zu diesen Autoren sieht Philippe Delmas, der in seinem soeben erschienen Buch "De la prochaine guerre avec l'Allemagne" (Vom nächsten Krieg mit Deutschland) die Gefahr nicht in einem neuen deutschen Expansionsstreben, sondern in einem isolationistischen und identitätssüchtigen Rückzug der BRD auf sich selbst. Anders als Griotteray und Bollmann tritt er nicht für eine Abschwächung der "Partnerschaft" zwischen Paris und Berlin ein, sondern für eine Vertiefung der europäischen Integration.

Trotz des wachsenden Mißtrauens gegenüber der neuen "Berliner Republik" ist es allerdings unwahrscheinlich, daß die politische Klasse Frankreichs künftig eine eigenständigere Politik betreiben möchte. Denn mit Beginn der gemeinsamen Währungsunion und dem Ende der deutschen Hochzinspolitik hat sich auch die ökonomische Situation Frankreichs verändert. Mit derzeit rund vier Prozent Wirtschaftswachstum wird nun nachgeholt, was in den Jahren der Politik des "starken Franc" unter dem Druck der Bundesbank blockiert wurde. Frankreichs Wirtschaft befindet sich - im Gegensatz zu Deutschland - in einer seit langen Jahren ungewohnten positiven Phase, die der Jospin-Regierung auf absehbare Zeit innenpolitische Stabilität verspricht. Ein länger andauerndes Zerwürfnis mit Deutschland ist daher eher unwahrscheinlich.