Knieschüsse für Autodiebe

In Nordirland soll eine "alternative Gemeindejustiz" die paramilitärischen Bestrafungsaktionen ablösen

Knieschüsse, Einsatz von Baseballschlägern und Hämmern sind in Nordirland häufig die "effiziente" Reaktion auf kleinere kriminelle Taten. 245 solcher Anschläge verzeichnete die Polizei im letzten Jahr; 62 Prozent davon wurden von loyalistischen Gruppen ausgeübt, der Rest geht auf das Konto von republikanischen Paramilitärs. Die Dunkelziffer liegt dabei vermutlich um einiges höher.

Meist geht es dabei um die Bestrafung von Vandalismus, joyriding, Autodiebstahl und Einbrüchen - "unsoziales Verhalten" ist in den ärmeren Vierteln der größeren nordirischen Städte ein akutes Problem. Die Arbeitslosenrate liegt in den Arbeitervierteln oft bei über 25 Prozent, Freizeitangebote für Jugendliche sind kaum zu finden.

Nach dem Scheitern der Friedensverhandlungen Mitte Juli wird befürchtet, daß die Zahl der Bestrafungsaktionen wieder steigen wird. Schließlich steht der Ruf nach "schneller" Gerechtigkeit in engem Zusammenhang mit den "troubles": Die Selbstjustiz der paramilitärischen Gruppen entstand in den Jahren des Bürgerkrieges.

In den Augen der katholischen Bevölkerung Nordirlands dienten die britischen Institutionen schon immer alleine britischen, unionistischen Interessen. Mit dem Ausbruch des Bürgerkrieges vor 30 Jahren begann man deshalb in den nationalistischen Vierteln, zumeist durch die republikanische Sinn Féin-Partei, mit dem Aufbau einer alternativen Verwaltungsstruktur. In den republikanischen Verbänden diskutierte man über die Gründung von people's courts und people's assemblies. Ziel war die selbständige Verwaltung der republikanisch kontrollierten Gebiete.

Mit den einsetzenden Friedensverhandlungen erhielt Sinn Féin die Möglichkeit, sogenannte "Einsatzzentralen" einzurichten, um die vereinbarten Waffenstillstände mit zu überwachen. Bald gelang es ihnen jedoch, ihren Arbeitskreis zu erweitern: "Wenn du normalerweise mit einem Problem zur Polizei gehen würdest - warum kommst du nicht statt dessen zum Sinn Féin-Einsatzzentrum?" hieß es damals in einem republikanischen Aufruf.

Doch nicht nur in den republikanischen Vierteln stieß die nordirische Polizei, die Royal Ulster Constabulary (RUC), auf immer weniger Gegenliebe. Die alltägliche Polizeifunktion wurde mit der Zeit von paramilitärischen Gruppen übernommen, denen so auch eine effektive Kontrolle ihrer eigenen Mitglieder ermöglicht wurde. "Das Maß an Unterstützung, das es für (paramilitärische) Bestrafungsaktionen gibt, würde viele außerhalb der Arbeiterviertel überraschen. Oft liegt dies an der Angst, daß die persönliche Sicherheit von der RUC nicht mehr gewährleistet wird", heißt es in einer Studie des Pat Finucane-Zentrums, einer unabhängigen Menschenrechtsorganisation in Derry.

Doch auch die Paramilitärs behaupten, mit der ihnen zugewiesenen Aufgabe nicht sehr zufrieden zu sein. Sie sehen sich von den Bewohnern in eine Polizeifunktion gedrängt, um die Sicherheit zu gewährleisten. Bis heute scheinen sich viele nicht an der grausamen Bestrafungsart der Paramilitärs zu stören. Denn die Opfer sind in aller Regel männliche Jugendliche, zumeist ohnehin Außenseiter. Man braucht in den eng nebeneinander liegenden Reihenhäusern nicht lange, um den Schuldigen zu finden.

Vor der Bestrafungsaktion folgt eine Warnung, die Gemeinde innerhalb einer Frist zu verlassen. Wer nicht Folge leistet, lebt in der ständigen Angst, Opfer der nächsten Bestrafungsaktion zu werden. Untersuchungen zufolge wurden alleine 1998 über 500 Einzelpersonen und Familien auf diese Weise bedroht; die Mehrzahl der Betroffenen kam den Warnungen nach.

Um der Selbstjustiz entgegenzuwirken, starteten katholische und protestantische Akademiker und Sozialarbeiter vor einigen Jahren unabhängig voneinander zwei Forschungsprojekte mit dem Ziel, Alternativen für den Umgang mit Straftaten auszuarbeiten. Als Ergebnis wurde auf republikanischer Seite im November letzten Jahres das Projekt "Community Restorative Justice" in Belfast eröffnet.

Mittlerweile gründeten sich vier weitere Pilotprojekte, die bereits über 100 Fälle bearbeitet haben. Die Rückmeldungen seien positiv, versichert Jim Auld, Koordinator des Projektes, der die Prinzipien von restorative justice gemeinsam mit Kollegen entwickelt hat. Sie kritisieren an dem offiziellen Justizsystem, daß es die Täter in einem bürokratisierten System der "blinden Rache" bestraft. Ziel des Projektes sei es, die Täter direkt in die Verantwortung für von ihnen begangene Taten zu nehmen. Zu den Prinzipien der Gemeindejustiz gehören sowohl Berufungsrechte für den Angeklagten, eine neutrale Einordnung verschiedener Delikte sowie die Einbindung der Gemeinde.

Zumeist melden sich die Betroffenen selbst bei einem Projekt. Die Gemeindearbeiter versuchen dann, bei gemeinsamen Treffen zwischen den Konfliktparteien zu schlichten und Lösungen aufzuzeigen. Bis jetzt habe noch keiner der Täter seine Handlungen geleugnet, meint Jim Auld weiter. Der soziale Druck sei dafür zu groß.

Mittlerweile ist das Projekt auf republikanischer Seite auch von Sinn Féin sowie dem örtlichen IRA-Kommando anerkannt. Diese riefen sogar ihre Anhänger dazu auf, sich direkt an ein alternatives Justizprogramm zu wenden. Auch wenn sich Auld bisher noch nicht vorstellen kann, mit der RUC zusammenzuarbeiten, schließt er dies für die Zukunft nicht mehr aus.

Ähnliches hört man auch auf loyalistischer Seite. "Wir arbeiten schon eng mit der hiesigen Polizeistation zusammen", erzählt Debbie, Koordinatorin von Shankill Alternatives, dem protestantischen Gegenstück auf Shankill Road, loyalistischem Kernland in Belfast. "Angestrebt wird von uns dabei langfristig eine gleichwertige Partnerschaft. Das ist natürlich für die RUC eine völlig neue Erfahrung."

Das Projekt wurde im September 1998 gegründet. Tom Winston, Mitarbeiter einer loyalistischen Ex-Gefangeneninitiative, traf sich dafür mit Tätern, Opfern und Vertretern der paramilitärischen Gruppe der Gegend, der Ulster Volunteer Force (UVF). Auch die UVF des Bezirkes ruft nun dazu auf, sich bei Delikten direkt an Shankill Alternatives zu wenden.

Oft sind es aber die Paramilitärs selbst, die die Sozialarbeiter auf "schwierige Fälle" hinweisen. In loyalistischen Vierteln ist das Vertrauen in die Polizei noch größer, und die Paramilitärs beschäftigen sich eher mit Verstößen gegen die eigenen Regeln als mit gewöhnlichen Straftätern. Unabhängige Beobachter kritisieren deshalb die neue Form der Gemeindejustiz auch als eine "paramilitärische Justiz", auf deren eigentliches Wirken die Gemeinde kaum Einfluß hat.

Auch die zweite große loyalistische paramilitärische Organisation UDA beginnt mit einem ähnlichen Projekt. Einig ist man sich, daß für eine dauerhaften Frieden eine soziale Lösung innerhalb der Gemeinden selbst gefunden werden muß. Sogar der wieder ins Land berufene amerikanische Verhandlungsführer Senator Mitchell stellte fest: "Es besteht ein grundsätzlicher Zusammenhang zwischen einem Ende der Bestrafungsaktionen und den Chancen auf einen Gesamterfolg des Friedensprozesses."