Nicht ohne meine Tochter

Ein deutscher Konzern wähnt sich als Opfer: Die US-Regierung und eine Schweizer Bank teilten sich sein Vermögen aus den USA. Seither versucht IG Farben in Abwicklung, entschädigt zu werden.

Die Beziehungen zwischen der deutschen, US-amerikanischen und schweizerischen Geschäftswelt waren vor, während und nach dem Zweiten Weltkrieg ganz besondere. Man hatte sogar eine gemeinsame Affäre. Sie hieß Interhandel.

Bereits nach dem Ersten Weltkrieg wußte sich ein deutsches Großunternehmen, die Metallgesellschaft Frankfurt a.M., gegen die Bemühungen zu wehren, daß ihr US-Vermögen als Feindesbesitz beschlagnahmt wurde. Zu diesem Zweck entwickelte ein gewisser Hermann Schmitz eine erfolgreiche Tarnung, indem er eine Schweizer Strohfirma als Besitzerin des Guthabens in den USA ausgab.

In den folgenden Jahren knüpfte Schmitz, der inzwischen zu IG-Farben (IGF) gewechselt und deren Chef geworden war, wichtige Beziehungen in die USA, unter anderem zum Erdöl-Unternehmen Standard Oil und zwei aufstrebenden Wirtschaftsanwälten, John Foster und Allen Dulles. Die beiden fungierten schon damals als Drehscheibe der wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Deutschland und den USA und dominierten nach dem Zweiten Weltkrieg die US-Politik: Der eine wurde Außenminister, der andere CIA-Chef.

Um den Profit aus dem Verkauf des Benzin-Hydrierverfahrens an Standard Oil dem deutschen Fiskus zu entziehen, gründete IGF 1928/29 Firmen in der Schweiz, in Holland und in den USA. In der Schweiz konnte Schmitz auf Vertrauensleute aus seiner Ära bei der Metallgesellschaft zählen. Einer von ihnen, Ed Greutert, gründete 1928 in seinem Auftrag die Internationale Gesellschaft für Chemische Unternehmungen AG (IG-Chemie, IGC) mit Sitz in Basel. Ein Jahr später entstand in den USA die American IG Chemical Co. (AIG), die im Unterschied zur Schweizer Firma im produktiven, also chemischen Bereich tätig war. Auch hier wurden Vertrauensleute eingesetzt, und im Aufsichtsrat saßen zahlreiche Größen der US-Wirtschaft.

Nach der Machtergreifung der Nazis fuhren die IGF doppelgleisig: Auf der einen Seite zeigten sie sich sehr zufrieden mit der Zerschlagung der Gewerkschaften - und noch mehr mit den Autarkie-Bestrebungen Hitlers, die eine starke staatliche Unterstützung für die IGF-Produktionsprojekte Synthetisches Gummi und Benzin nach sich zogen. Andererseits wollten die IGF ihre Eigenständigkeit und internationalen Einfluß bewahren.

Die IGF waren nicht nur entscheidend für den Aufbau der NS-Wirtschaft, sondern wiesen eine lebhafte Beteiligung an deren Raubtätigkeit und anderen Verbrechen auf. Schon in den dreißiger Jahren schmuggelten IGF zu ihrem Schweizer Pendant mindestens 120 Millionen Schweizer Franken, die wahrscheinlich aus "Arisierungen" stammten.

Gegen Ende der dreißiger Jahre wuchs die Notwendigkeit, die US-Geschäfte besser zu tarnen. Das verräterische "IG" mußte aus dem Firmennamen AIG verschwinden und wurde durch das neutrale General Aniline and Film Corp. (GAF) ersetzt. Die Gesellschaft wurde 1940 als Besitz der IG Chemie in Basel deklariert. Für diese Zwecke versuchten IGF die deutsche Kontrolle über die IGC zu verschleiern. Diese ersten "Verschweizerungsversuche" scheiterten jedoch, denn Untersuchungen der zuständigen Schweizerischen Verrechnungsstelle deckten die tatsächlichen Besitzverhältnisse auf. Kurz nach Kriegseintritt Washingtons im Dezember 1941 wurde die GAF als deutsches Feindesvermögen in den USA blockiert, weiterhin aber von IGF-nahen Leuten geführt.

Anfang 1945 war es den Kreisen um IG-Chemie - die sich mittlerweile den neutralen Namen Interhandel zugelegt hatte - doch noch gelungen, die Schweizer Behörden zu überreden, die Nationalität der Gesellschaft erneut zu prüfen. Ein Revisorenteam der Schweizer Behörden, das unter Druck der Interhandel-Geschäftsleitung seine Arbeit ausführte, wurde nach Basel geschickt.

Der junge Wirtschaftsprüfer Albert Rees wollte seinen Job korrekt erledigen, sein Chef manipulierte jedoch den Schlußbericht. Die Resultate stießen in der Schweiz auf Widerstand - es kam zu einer weiteren Untersuchung. Leiter des fünfköpfigen Teams war diesmal der kritisch eingestellte Rees, der nun aber ein bißchen vorsichtiger agierte.

Der über 500-seitige Rees-Bericht zeigte eine klare deutsche Beherrschung der Firma Interhandel auf. Zwei hohe Beamte, Max Ott, Chef der kontrollierenden Schweizerischen Verrechnungsstelle und Walter Stucki, höchster Beamter aus dem Außenministerium, sorgten jedoch dafür, daß die Ergebnisse ins Gegenteil verkehrt wurden. Den US-Behörden wurde 1946 mitgeteilt, Interhandel sei eine rein schweizerische Firma; deren US-Tochtergesellschaft GAF sei deswegen freizugeben.

Zu diesem Zeitpunkt tobte in den USA ein Machtkampf zwischen dem Justiz- und dem Finanzministerium einerseits, auf der anderen Seite standen wichtige Vertreter der US-Wirtschaft und das Außenministerium mit ihren langjährigen Beziehungen zu deutschen Großunternehmen. Die US-Finanz- und Justizministerien wollten die IG-Farben-Vermögen in den USA beschlagnahmen, konnten sich damit aber nicht durchsetzen. Dennoch blieb es - trotz des "positiven" Schweizer Berichts - vorerst blockiert.

Es folgte eine langjährige juristische und politische Auseinandersetzung, in der die Schweizer Behörden immer aktiver bei der Unterstützung der Interhandel wurden und aufwendige Lobbyarbeit in den USA leisteten, vor allem in republikanischen Kreisen.

1958 übernahm die Schweizerische Bankgesellschaft (SBG, heute UBS) die Interhandel. Zwei Jahre später, nach dem Machtwechsel in den USA, gelang es der SBG, Einfluß auf den neuen Justizminister Robert Kennedy zu nehmen. Trotz erheblichen Widerstands seiner Beamten unterschrieb Kennedy im Dezember 1963 ein Abkommen mit der SBG, nach dem die Schweizer Bank etwa 45 Prozent der GAF beanspruchen dürfe und der Rest an die US-Regierung gehen solle. 1965 wurde die GAF versteigert, die SBG bekam rund 515 Millionen Schweizer Franken und wurde damit zur größten Bank der Schweiz.

Mittlerweile war die Entflechtung des IG Farben-Konzerns in der BRD vollzogen. Neben den späteren Chemie-Trusts Bayer, BASF und Hoechst entstand die Liquidationsfirma IG-Farben in Abwicklung (oder in Liquidation), deren Aufgabe allein die Bearbeitung noch offener Vermögensfragen und Forderungen war. Dazu zählten sowohl Entschädigungsansprüche ehemaliger IG-Zwangsarbeiter wie auch die Klärung von unklaren Vermögensverhältnissen im Ausland.

IG-Farben in Abwicklung zeigten sich zunächst zurückhaltend, was die Vermögensansprüche in der Schweiz anging. Über viele Jahre wurde das Thema Interhandel in den Geschäftsberichten der Firma nicht einmal mehr erwähnt. Erst in den achtziger Jahren meldeten sich IGF wieder und erhoben in Deutschland eine Rückforderungsklage gegen die SBG. Diesmal standen die Chancen für die IGF-Leute besser, denn neben dem für sie günstigen Rees-Bericht war nun auch ein Schweizer Ex-Diplomat, Ernst Schneeberger, bereit, als Kronzeuge in Deutschland aufzutreten. Die Schweizer Regierung beschloß jedoch, alle Interhandel-Akten im Bundesarchiv wieder zu sperren. Schneeberger und Rees wurde untersagt, Aussagen vor deutschen Gerichten zu machen. 1988 verlor die IG-Farben i.A. den Prozeß vor dem Obersten Gerichtshof in Karlsruhe, seither kann sie auf juristischem Weg in dieser Sache nicht mehr agieren.

In der Schweiz ist inzwischen die Sperre auf die Interhandel-Akten im Bundesarchiv weitgehend aufgehoben - mit Ausnahme einer Schachtel, die den Rees-Bericht sowie verschiedene andere Dokumente beinhaltet, die auf die Rolle der Schweizer Behörden hinweisen. Aber diese Sperre ist eigentlich eine Farce, denn Duplikate der meisten Dokumente sind in anderen Dossiers zugänglich.

Bei der jetzigen Runde der Vergangenheitsaufarbeitung in der Schweiz wird die Interhandel-Affäre erstaunlich vernachlässigt - obwohl das Thema die Schweizer Medien bis in die sechziger Jahre intensiv und auch kritisch beschäftigt hatte. Auch angebliche Vorreiter des kritischen Diskurses, wie die sozialdemokratischen Nationalräte Jean Ziegler und Paul Rechsteiner, haben heute ihre Mühe mit dieser Geschichte.

Die Historiker-Kommission unter Jean-Fran ç ois Bergier ernannte einen einzigen Forscher, um diesen Komplex aufzuklären. Anscheinend steht kein Budget zur Verfügung, das erlaubte, auch die deutschen und US-Bestände (nicht zu reden von den Akten in Südamerika, Niederlande usw.) zu erforschen. Dabei geht es bei dieser Affäre nicht nur um die GAF-Gelder, sondern um den überwiegenden Teil des gesamten IGF-Auslandvermögens, Bilanzstichtag 8. Mai 1945.

Shraga Elam ist freier Journalist aus Israel und lebt in Zürich.