Plunder-Shoppen im Kiez

Gefährliche Orte LXX: Katastrophenstimmung im Kreuzberger Graefe-Kiez. Eisenwaren Erdmann muß schließen!

Kiez - das ist nicht nur ein Lebensgefühl, sondern hat auch etwas mit Tradition zu tun. Aus seinem Kiez zieht man nur weg, wenn die Yuppies und die Touristen kommen, einem im eigenen Hausflur zum dritten Mal das Fahrrad geklaut wird oder wenn bereits alle Bekannten weggezogen sind. Dann ist der Kiez aber auch nicht mehr das, was er früher einmal war.

In Kreuzberg ist das Kiezleben in etwa so bedeutsam wie in Prenzlauer Berg die zahlreichen hübschen und teuren Kneipen, wie das Schöneberger Überangebot an Ökoläden und Esoterikbedarf und wie die in Berlin einmalig häßliche Architektur Marzahns und Hohenschönhausens. Wie Baustellen zu Mitte, Nazi-Witwen zu Wilmersdorf und Alarmanlagen zu Zehlendorf gehört der Kiez eben zu Kreuzberg.

Nicht nur einer, versteht sich. Der Bezirk ist groß, ein bißchen Vielfalt muß da schon sein. Obwohl man sich oft zu Recht fragt, ob es zwischen den einzelnen Kiezen überhaupt einen Unterschied gibt. Trotzdem wissen natürliche alle Kreuzberger, daß ihr Kiez der schönste ist - deswegen leben sie ja auch dort. O-Straßen-Kiez, Wrangel-Kiez, Reiche-Kiez, Bergmann-Kiez und nicht zuletzt der Graefe-Kiez.

Der Graefe-Kiez, das ist das Postleitzahlengebiet 10967, eingegrenzt von Urbankrankenhaus, Hasenheide, Kotbusser Damm und Landwehrkanal. Ortsunkundige halten die Gegend oft schon für einen Teil Neuköllns, obwohl schon die geringe Kampfhunddichte dagegen spricht. Und spätestens wenn man bedenkt, daß fast der gesamte Graefe-Kiez verkehrsberuhigter Bereich ist, in dem wildgewordene Radfahrer, mitten auf der Straße abgestellte Lieferfahrzeuge und die ganz selbstverwaltet aus den obligatorischen Kinderläden auf die Straße rennenden Kids die Autofahrer terrorisieren, ist klar, daß sich der Durchschnittsneuköllner hier mit Sicherheit nicht wohlfühlen würde.

Wozu auch - schließlich liegt der Graefe-Kiez in Kreuzberg. Mit allem, was dazugehört: Döner hier, Fünf-Mark-Pizza da, eine Handvoll rotgesichtige Alkoholiker, die auch außerhalb der Öffnungszeiten Getränke Hoffmann belagern, aufgebrochene Kaugummiautomaten, türkische Bäckereien, von denen sich besonders geschäftstüchtige als französisches Steh-Café deklarieren, und ausladende Proletenkneipen.

Eine Gegend, in der Sperrmüll einfach auf die Straße gestellt werden kann, irgendein Abnehmer wird sich da schon finden und den Plunder mitnehmen. Vielleicht gibt es auch genau deshalb im Graefe-Kiez so viele Trödler, Entrümpler und Wohnungsauflöser. Demnach müßte schätzungsweise die Hälfte aller Haushalte im Kiez von den Möbelverramschern leergeräumt worden sein. Es dürfte kaum jemanden geben, der seine Wohnungseinrichtung noch aus erster Hand ersteht. Neuwertige Toaster bekommt man hier für zehn Mark, und wer gut handeln kann, muß auch für Stühle, Tische, Lampen und anderen Kram nur wenig bezahlen. Gebrauchte Bücher und Klamotten gibt's meist noch dazu.

Die Ramschläden sind eine ideale Ergänzung zu den Pfennigfuchsern und Billiganbietern vom Kottbusser Damm - selbst in den anderen Kiezen Kreuzbergs kann man kaum günstiger einkaufen und Schnäppchen für Schnäppchen erstehen. Für alteingesessene Einzelhandelsgeschäfte ist das freilich kein besonders gutes Geschäftsumfeld. Überall stehen Gewerberäume leer: Zu vermieten, zu vermieten, zu vermieten - erfahren die vorbeigehenden Passanten aus den leeren Schaufenstern.

So darf es in der Graefestraße und Umgebung auf keinen Fall weitergehen, finden besorgte Anwohner und sind schon aktiv geworden. Zu jedem Kiez gehören schließlich auch Bürgerinitiativen, Stadtteilgruppen und Skatvereine. Warum also nicht auch im Graefe-Kiez? Eine AG Zickenplatz bemüht sich um die Gestaltung des Hohenstaufenplatzes, eine Initiative von Geschäftsleuten veranstaltet Jahr für Jahr ein Graefe-Kiezfest und der sogenannte Graefe-Ratschlag gibt sogar eine eigene Kiezzeitung heraus, die Graefepost. Ein Blatt, das schon mal auf knapp anderthalb Seiten die eigenen Redakteure interviewt und so schlecht gemacht ist, daß man statt dessen lieber einen ganzen Stapel der sonst so verhaßten nutz- und kostenlosen Anzeigenblätter im Briefkasten vorfindet.

Immerhin aber ist die Graefepost um das aussterbende Kleingewerbe im Kiez besorgt: Um Erdmann Eisenwaren beispielsweise. Ein Laden, wie ihn eigentlich jeder Kiez braucht. Wo soll man sonst den 30-Liter-Mülleimer mit Zinkeinsatz für sensationell günstige 101,75 Mark erstehen? Lötpistolen offeriert der Inhaber Hans-Joachim Erdmann sogar direkt "aus meiner Werkstatt", und wer beim Trödler schräg gegenüber Anziehsachen erstanden hat, bekommt im Schaufenster von Erdmann Eisenwaren - außer in der Mittagspause von 13 bis 15 Uhr - die passenden Bügel angeboten. Weil Erdmann aber nun bald in den Ruhestand geht, wird der immerhin seit 1923 bestehende Laden wohl schließen.

Die Graefepost ist entsetzt: "Soll uns dieses wichtige Stück Infrastruktur verloren gehen?" Traditionsfachgeschäfte sind in der Gegend selten geworden - nur Döhnerts alte Dampfbäckerei, der benachbarte Fisch- und Feinkost-Laden sowie der Uhrmachermeister und Juwelier Göring führen den Geschäftsnamen noch in altdeutscher Schrift.

Bürgerinitiativen haben ja die Angewohnheit, selbst geringfügige Veränderungen zu bejammern und eifrig zu debattieren, ob beispielsweise ein Spielplatz noch eine zweite Schaukel benötigt, ob ein Poller um einen Meter nach rechts oder links verschoben werden sollte und ob in der Straße noch Platz für die Anpflanzung eines weitereren Baumes ist. Und damit bedrängen sie dann Unbeteiligte oder beschäftigen die Ämter. Der Graefe-Ratschlag ist da nicht anders. Beim Bezirksamt Kreuzberg hat er sogar ein Wirtschaftsentwicklungskonzept für seinen Kiez vorgelegt. Nur: Ohne Anschubfinanzierung wird das nichts.

So schnell lassen sich engagierte Mitbürger aber nicht von ihren Plänen abbringen. Noch vor Jahresende soll ein Bürgerforum "auf Kiez-Ebene" deshalb einen finanzierbaren Entwurf ausarbeiten. Dazu aber braucht der Graefe-Ratschlag Experten: "Gewerbetreibende, Ökonomen aller Fachrichtungen, Informatiker, Bänker und andere, die mit uns die Vorarbeit für ein solches Forum leisten".

Vielleicht aber ist das erfolglos und die Kiezaktivisten ziehen weg - weil der Graefe-Kiez ja auch nicht das ist, was er früher einmal war.