Staatsbürger unter Volksgenossen

Zum Tod von Ignatz Bubis.

Glaubt man den Nachrufen für den am 13. August unerwartet verstorbenen Ignatz Bubis, litt er "unter einem tragischen, weil unausweichlichen Konflikt" (Berliner Morgenpost), der "einen zunehmend melancholischen Seelenzustand" (Tagesspiegel) hervorrief. Kein deutscher Politiker, der nicht den Grund dafür kennt: Bubis "war wichtig für Deutschland" (Kerstin Müller und Rezzo Schlauch, B 90/Grüne), weil er "als deutscher Jude (...) einen wichtigen Beitrag zur deutsch-jüdischen Freundschaft geleistet" habe (Angela Merkel, CDU) und so zum "Brückenbauer über die Gräben der Vergangenheit" wurde (Edmund Stoiber, CSU); kurzum, eine "herausragende Persönlichkeit, die uns herausgefordert und gemahnt hat" (Gregor Gysi, PDS); oder noch kürzer: "eine moralische Instanz" (Roland Koch, hessischer Ministerpräsident, CDU). Der plötzliche Tod von Ignatz Bubis hat die Deutschen unvorbereitet getroffen, weswegen die Respektsbezeugungen auch hilflos ausfallen.

Ignatz Bubis ist unversöhnt gestorben. Das ist in Deutschland ungefähr so, als verließe ein gläubiger Katholik ohne letzte Ölung das irdische Jammertal. In einem Interview mit dem stern hatte Bubis vor wenigen Wochen erklärt: "Ich habe immer herausgestellt, daß ich ein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens bin. Ich wollte diese Ausgrenzerei, hier Deutsche, dort Juden, weghaben. Ich habe gedacht, vielleicht schaffst du es, daß die Menschen anders übereinander denken, anders miteinander umgehen. Aber nein, ich habe nichts bewegt."

Die Meute heulte auf. Sie wollte nicht auf sich sitzen lassen, daß sie nichts gelernt hat. Nur zu gern wollte sie in Bubis den deutschen Staatsbürger jüdischen Glaubens sehen, den Prototyp des tatsächlich unschuldigen Deutschen, dessen scharfe politische Attacken man als "Mahnungen" abtun konnte. Bubis wußte jedoch, daß er von "der Mehrheit der Gesellschaft, ob es jetzt 51 Prozent oder 55 sind, (...) eben als Israeli, als Ausländer, als Fremder, als Gast gesehen" wurde, wie er in einem konkret-Gespräch mit Hermann L. Gremliza nach der Debatte um Martin Walsers Friedenspreis-Rede sagte.

Und auch mit seiner Funktion als "moralische Instanz", in der die andere Hälfte der Deutschen Bubis gern sehen wollten, hatte er seine Probleme. In der Debatte um das Holocaust-Mahnmal hat er es vermieden, den Deutschen Absolution zu erteilen. Schon in diesem Gespräch bilanzierte er: "Ich habe wenig erreicht."

Dabei hatte 1992, als Bubis zum Vorsitzenden des Zentralrats der Juden in Deutschland gewählt wurde, alles so hoffnungsvoll begonnen. Weil Bubis 1989/90 das sich wiedervereinigende Deutschland gegen Kritik des Jüdischen Weltkongresses in Schutz genommen hatte, hoffte man, der Nachfolger des ungeliebten Heinz Galinski würde seinen Teil zur deutschen Normalisierung beitragen. Und darin haben die Nachrufer auch recht, denn er hat alles in seinen Kräften Stehende getan, "Botschafter unseres Landes in der Welt" (Helmut Kohl) zu sein: Nur Bubis konnte den israelischen Staatspräsidenten Chaim Herzog kritisieren, als der während seines Deutschlandbesuches 1997 die Frage aufwarf, wie es möglich sein kann, daß nach dem Holocaust nun wieder Juden in Deutschland leben wollten.

Allein, die Deutschen verstanden etwas anderes unter Normalisierung als Bubis unter Normalität. Für ihn war Normalität zum Beispiel mit der Vision verbunden, jüdische Einrichtungen müßten nicht mehr wie Hochsicherheitstrakte geschützt werden; für die Deutschen aber war am Anfang der neunziger Jahre mörderischer Rassismus und Schlußstrichmentalität Teil ihrer Normalisierung. Die Ereignisse der Jahre 1991/92 wurden in Deutschland weniger als innen-, denn als außenpolitisches Problem wahrgenommen.

Das "deutsche Ansehen in der Welt" war so kurz nach der Wiedervereinigung tatsächlich gefährdet; so schickte die Bundesregierung nach dem Anschlag auf die jüdischen Baracken in der KZ-Gedenkstätte Sachsenhausen im Herbst 1992 den damaligen Außenminister Klaus Kinkel zum Tatort; umgekehrt war Bubis der einzige deutsche Politiker, der sich nach dem Pogrom von Rostock-Lichtenhagen vor Ort blicken ließ. Jahre später warf Martin Walser ihm vor, er fühle sich genötigt, "an 33" zu denken, wenn Bubis die Tatorte der rassistischen Mordbrennereien besuche.

Bis zu dieser endgültigen Ausgrenzung durch Walser und seinem intellektuellen Volkssturm ließ Bubis nichts unversucht, sich für eine Normalität jenseits der Normalisierung einzusetzen - "es war ein schmaler Grat. Auf der einen Seite mußte er die Erinnerung an die Vergangenheit wachhalten, auf der anderen Seite für die Zukunft der jüdischen Gemeinde in Deutschland sorgen", so Elan Steinberg, der Direktor des Jüdischen Weltkongresses, in seinem Nachruf. Zwischen dem Gutachter in Sachen deutsche Vergangenheitsbewältigung, dessen Anerkennung als "moralische Instanz" in dem Maße wuchs, wie seine Interventionen an Wirkung verloren, und dem politischem Interessenvertreter, dessen mit der Zeit immer müdere Affirmation der deutschen Demokratie die Resignation schon lange vor dem stern-Interview anzeigte, liegt das Paradox der Realpolitik, das Bubis im konkret-Gespräch so beschrieb: Während der Walser-Rede habe er kurz überlegt, ob er aufstehen und rausgehen solle. "Meine Frau hat mich angestoßen: Ob wir uns das anhören müssen? Aber ich wollte keinen Eklat." Gremliza: "Das ist das Problem Ihres Lebens. Wenn sie rausgehen, dann müssen Sie aufhören, Politik zu machen." Bubis: "So ist es. Ich habe ja auch eine Verantwortung in meiner Funktion."

Der Staatsbürger unter Volksgenossen gestand sein Scheitern ein. Der Fortbestand der Volksgemeinschaft ermöglichte die Kontinuität des deutschen Antisemitismus, der mit Auschwitz endgültig zu einem spezifischen geworden ist, auch in der Demokratie. Als Überlebender des Ghettos, als KZ-Häftling und als Zwangsarbeiter, dessen Vater und Geschwister im Vernichtungslager Treblinka ermordet wurden, wußte er um diesen Zusammenhang, den er als FDP-Politiker, Geschäftsmann und jüdischer Interessenvertreter, der seine Aufmerksamkeit den politischen, ideologischen und ökonomischen Sachzwängen zu widmen hatte, verdrängen mußte. Ein Widerspruch, der viele politisch engagierte Überlebende bis zur Rastlosigkeit umtreibt. Und der ihnen zur Last gelegt wird: als Rachegelüste. Die Schuld, die keine Strafe erfahren hat, wird von den Deutschen als Rachewunsch auf die Juden projiziert.

Deswegen ist auch Rainer Werner Fassbinders Stück "Der Müll, die Stadt und der Tod" antisemitisch: Der "reiche Jude" will sich an den Deutschen durch skrupellose Immobilienspekulation rächen. Bubis und andere jüdische Geschäftsleute sowie solche, die man für Juden hielt, wurden im Frankfurter Häuserkampf der siebziger Jahre von Linksradikalen als "jüdische Spekulanten" bezeichnet, und in der Figur des "reichen Juden" finden sich zahlreiche Anspielungen auf sie. Als Fassbinders Stück 1985 in Frankfurt/Main aufgeführt werden sollte, besetzten Mitglieder der Jüdischen Gemeinde, unter ihnen Bubis, die Bühne. "Als diese Aufführung stattfinden sollte, habe ich zum ersten und einzigen Mal daran gedacht, aus Deutschland wegzugehen (...). Wenn so etwas möglich ist, dachte ich, dann kann ich nicht in Deutschland bleiben", erinnerte sich Bubis 1993 an die damalige Situation.

Der neuen Variante des Schlußstrichziehens hatte Bubis nur noch Empörung und Verbitterung entgegenzusetzen. Das lange Schweigen der postfaschistischen Gesellschaft, von den Überlebenden zäh bekämpft, ist plötzlich einem ohrenbetäubenden Geschwätz über Auschwitz gewichen, in der die Stimme der Überlebenden nur eine unter vielen ist. Wurde den Überlebenden durch das Verschweigen zumindest indirekt die Rolle als Mahner und Warner zuerkannt, gelten sie in Zeiten des Geschwätzes als die Störenfriede der nationalen Versöhnung.

Auf seinen ausdrücklichen Wunsch hin, wurde Bubis am vergangenen Sonntag in Tel Aviv beigesetzt: Er wollte nicht, daß sein Grab, wie das seines Amtsvorgängers Heinz Galinski, von deutschen Antisemiten zerstört wird. Daß er in Deutschland leben, aber nicht begraben sein wollte, war seine letzte Stellungnahme zum Stand des deutsch-jüdischen Verhältnisses: Im Tode wurde er zum ersten prominenten Emigranten der Berliner Republik. So fand zwar ein halbstaatliches, aber kein Staatsbegräbnis statt; in Israel waren die Repräsentanten Deutschlands zwar willkommen, aber dennoch nur Gäste. Ebensowenig wie die Beerdigung in Israel es deutschen Politikern erlaubte, sich mit dem Andenken des Verstorbenen zu schmücken, werden sie künftig Gelegenheit haben, sich anläßlich eines Anschlags auf sein Grab in Betroffenheit zu üben. Diese letzte Genugtuung hat Ignatz Bubis seinem Land nicht gegönnt.