Wessidreck am Ossistrand

Der dreifache Rückwärts-Salto des marxistischen Historikers Otto Köhler im Neuen Deutschland

"Modern ist in diesem Lande heute - und es war schon das Elend der SED, da aufholen zu wollen - jeder Wessi-Dreck, auf den man verzichten kann: von den Menschenabfütterungsprodukten des Lohnraubkonzerns McDonald - zur Eröffnung der 1000. Filiale in Berlin ist Kanzler Schröder eingeladen - bis zur Badehose am Ostseestrand, die die wabbeligen Fettfiguren aus Paderborn oder Hintertupfing den Ossis aufzwingen wollen."

Der Anwalt ostdeutscher Gemütlichkeit, der diesen Unsinn zu Papier gebracht hat, ist nicht der Chefredakteur der Regionalzeitung junge Welt, auch nicht der Zentralratsvorsitzende einer kulturrevolutionären Kleinpartei, die den bodenständigen ostdeutschen Bratwurststand wiederhaben möchte, der dem 1000. McDonald's weichen mußte, und ebensowenig ein ehemaliger Funktionär der VEB-Textilwarenproduktion, der sich nach der DDR-Bademode der siebziger Jahre zurücksehnt, welche heutzutage gegenüber den Schnitten aus Paris und New York nicht mehr konkurrenzfähig ist.

Nein, der Autor ist kein Geringerer als der Historiker Otto Köhler. Unter dem Titel "Modern ist jeder Wessi-Dreck" hat er im Neuen Deutschland vom 7./8. August ein Plädoyer für eine sozialdemokratische Deregulierungspolitik, die sich an "Gysis Vorschlägen" orientiert, und, schlimmer noch, für die Bewahrung ostdeutscher Kulturidentität gegenüber der "Moderne" verfaßt. Das Neue Deutschland hat mit Köhler einen prominenten Marxisten für die Gastkolumne gewonnen, der bisher, trotz eines zuweilen allzu schematisch-ökonomistischen Faschismus-Begriffes, noch nie als Freund der deutschen Nation oder des ostdeutschen Regionalismus in Erscheinung getreten war. Für die Ehre, mit Bild auf der Titelseite der PDS-nahen "Sozialistischen Tageszeitung" erscheinen zu dürfen, hat sich Köhler nun mit einer dreifachen intellektuellen Anpassungsleistung bedankt.

Erstens wird die Kritik kapitalistischer Vergesellschaftung durch die Affirmation der PDS-Variante sozialdemokratischer Reformierung des Sozialstaats ersetzt. Daß jene diesen bis zur Unkenntlichkeit transformieren will, stört Köhler nicht; Gysis Vorstoß sei "gut und richtig", da man "die verbliebenen eingeschüchterten Reste der Sozialdemokratie wegnehmen" müsse, solange die PDS "bei der Verfolgungsjagd der Schröder-Partei spätestens kurz vor der Mitte des Parteienspektrums halt" macht. Hierbei wird, zweitens, überhaupt nur noch die Erscheinungsebene kapitalistischer Produktion für Köhler zum Problem: die aus den Fabriken ausgestoßene Warenwelt des "Wessi-Drecks", den Köhler besonders zu verachten scheint. Köhler schwärmt offenbar für das Sinnlich-Konkrete - vielleicht für ostdeutsche Hausmannskost, die frei ist von Verwestlichung.

Aber auch der ostdeutsche Mittelstandsbetrieb, der nicht zu den "großen Konzernen" zählt, die Köhler für den Ursprung allen Übels hält, erscheint hier vom "Wessi-Drecks"-Kapitalismus eigen- bzw. volkstümlich geschieden. Der ostdeutsche Unternehmer, wird suggeriert, ist nicht ganz so unmenschlich wie die westdeutschen Konzerne. Aber wer, wie Köhler mit der PDS, in Deutschland schon fast kurz vor der Mitte angelangt ist, der überrascht nicht mehr, wenn er, drittens, auch die gesellschaftlichen Beziehungen im Sinne eines ostdeutschen Kulturkampfes identitätspolitisch kulturalisiert.

Auch die zutreffende Beobachtung, daß Kanzler Schröder, oberster Beamter im Arbeitsbereich des ideellen Gesamtkapitalisten, mit seinem geplanten Besuch bei der McDonald's-Filialeneröffnung einem Konzern huldigt, der zur Avantgarde kapitalistischer Deregulierung gehört und die Abgabenlast des neuen 630-Mark-Gesetzes an die Lohnarbeiter und -arbeiterinnen weitergibt, wird so eingemeindet in Reflexe ostdeutscher Provinzialität.

Dabei entgeht Köhlers Blick völlig, daß nicht nur die Westdeutschen in puncto Schmerbauch und "wabbeliger Fettfigur" einiges in die Waagschale zu werfen haben, sondern auch ihre östlichen Landsleute; im besonderen, daß die westdeutschen und die ostdeutschen Deutschen gar nicht so verschieden, sondern in erster Linie deutsch sind, mit allem, was politisch-kulturell dazugehört und sich mentalitätshistorisch verhärtet wie ideologiegeschichtlich sedimentiert hat.

Selbst Oskar Lafontaine hat Anfang des Jahres, noch in Amt und Würden eines deutschen Finanzministers, erstaunlich akkurat im Anschluß an die Hessen-Wahl konstatiert, daß man insbesondere mit der Hetze gegen Ausländer in Deutschland noch immer jede Wahl gewinnt. Das nationalistische Ressentiment ist es, das die hessische Bürgerbewegung gegen die doppelte Staatsbürgerschaft mit den jungen "Skinheadbuben" (Walser) aus Mecklenburg-Vorpommern verbindet.

Vor allem gibt es am ostdeutschen Ostseestrand bei weitem Schlimmeres als westdeutsche Badehosen. Daß Leute, die nicht deutsch aussehen, an ostdeutschen Stränden nur selten Gelegenheit haben, ohne Angst um Leib und Leben west- oder ostdeutsche oder amerikanische oder brasilianische Badekleidung vorzuführen, kommt Köhler nicht in den Sinn. Ebensowenig, daß dieser Umstand mit dem "Wessi-Dreck" und dem vermeintlich westdeutschen Kapitalismus nur sehr bedingt vermittelt ist. Dieser kommt nämlich mit der Baseball-Schläger-Produktion nicht hinterher.

Statt die ideologische Verwendung des Begriffs "Moderne" als Mittel der Legitimation von Sparhaushalten anzugreifen, wird das Ressentiment gegen die "Wessis" und die Moderne schlechthin mobilisiert: "Modern sein heißt, das lehrt uns Schröder, heute dies und morgen das zu wollen." Ohnehin verschwimmt bei Köhler die Differenz zwischen der Moderne an sich und für sich: Wenn die widersprüchlichen Momente der westlichen Moderne so widerspruchslos mit der Herrschaft des "westlichen" Kapitalismusâ der bei Köhler allemal schlimmer scheint als die ostdeutsche Verwertung, identifiziert werden, ist der dumpfe anti-moderne Reflex nicht weit.

Zu fragen bleibt: Was ist nur in Otto Köhler gefahren, dem die kritische Geschichtswissenschaft und die Elitenforschung überaus viel zu verdanken haben? Der Wessi Köhler hätte gut daran getan, auf seinem Terrain zu bleiben: der politischen Historiographie und ihrer Kritik. Statt dessen hat er sich in die geistigen Niederungen ostdeutsch-sozialdemokratischer Identitätspolitik begeben, bei der das volksnahe Ressentiment jeden Anflug von Reflexion verdrängt.