Frankreich im Sommerloch

Agent Jospin

Man kann davon ausgehen, daß Revoluzzer von einst nicht die schlechtesten Voraussetzungen dafür mitbringen, einige Jahre später die besten Hüter etablierten Ordnungen abzugeben. Das ist nicht neu, dennoch überrascht es immer wieder, mit welcher Hilflosigkeit die Protagonisten den Lauf der Dinge zu erklären versuchen.

Seit Jahren machte in Frankreich das Gerücht die Runde, Premierminister Lionel Jospin sei zu Anfang der siebziger Jahre trotzkistischer Aktivist gewesen. Das wäre auch gar nicht weiter aufregend, beteuerte dr Regierungschef nicht - und das ausgerechnet im Sommerloch -, nie sei er usw., es liege eine Verwechslung mit seinem Bruder Olivier vor.

Der war unbestritten bis Ende der achtziger Jahre eines der Führungsmitglieder einer Polit-Sekte, die in den Siebzigern Organisation Communiste Internationaliste (OCI) hieß und sich seit 1991 Parti des Travailleurs (PT), Partei der Arbeiter, nennt. Zur Strategie dieser Strömung, die sich scharf von den beiden trotzkistischen Parteien LO und LCR abgrenzt, gehört seit ihrer Entstehung in den fünfziger Jahren die Unterwanderung politischer und gewerkschaftlicher Organisationen. So kontrolliert der heutige PT einen Teil des Gewerkschaftsapparats von Force Ouvrière (FO), jenes mehrheitlich "unpolitisch"-rechten Gewerkschaftsbunds, der sich 1947/48 von der KP-nahen CGT abgespaltet hatte.

Seit wenigen Wochen nun kann der Regierungschef Informationen über seine frühere Rolle in dieser Kaderorganisation nicht mehr so einfach leugnen. Zunächst publizierten Anfang Juni zwei frühere OCI/PT-Führungskader, der Regisseur Jacques Kirsner und der Wirtschaftswissenschaftler Fran ç ois Chesnais - beide haben mit der Organisation gebrochen - einen Text in der Tageszeitung Libération. Darin riefen sie zur Wahl der gemeinsamen Liste von LO und LCR bei den Europaparlamentswahlen auf. Scheinbar beiläufig erwähnten sie, sie seien "lange Jahre hindurch mit Lionel Jospin zusammen aktiv gewesen" und hätten dabei "dieselben revolutionären, sozialistischen und demokratischen Überzeugungen" geteilt; im Namen der politischen Ehrlichkeit forderten sie Jospin auf, dazu zu stehen. Die Botschaft wurde verstanden, und Le Monde wertete den Beitrag am folgenden Tag als Beleg für die frühere OCI-Mitgliedschaft des Premiers.

Einen Monat später behauptete der langjährige OCI-Funktionär Patrick Dierich in der Sonntagszeitung JDD, Jospin sei der 1971 neugegründeten Sozialistischen Partei als OCI-Kader beigetreten - allein mit dem Auftrag, Einfluß auf deren Parteistrukturen zu gewinnen.

Noch bis Anfang der achtziger Jahre, so Dierich, der Jospin in jener Zeit regelmäßig bei Kadersitzungen traf, sei dieser als "Einflußagent" der OCI in der Sozialdemokratie geblieben. Viel Stoff für Verschwörungstheorien. Und der Sommer ist auch noch nicht vorbei