Auf heißen Kohlen

Die Warschauer Regierungskoalition befindet sich in ernsthaften Schwierigkeiten: Ihr ehrgeiziges Reformprogramm droht zu scheitern

Die Bauern kamen mit Stöcken, Ketten und Benzinkanistern. Entschlossen drangen sie in das Wojwodschaftsamt in Olszytn, rund 250 Kilometer nördlich von Warschau, ein, und nahmen den örtlichen Regierungsvertreter und seinen Angestellten gefangen. Ohne eine Garantie für höhere Getreidepreise würden sie nicht abziehen, erklärten die Eindringlinge. Wenig später stürmte eine Anti-Terror-Einheit das Gebäude und feuerte mit Gummigeschossen auf die Besetzer. Zwölf Protestierende wurden Mitte August bei der Aktion verletzt - darunter Andrzej Lepper, Führer der Bauernorganisation Samoobrona (siehe auch Seite 11).

Besetzungen, Blockaden und Prügeleien mit der Polizei - fast täglich wird in der polnischen Presse über neue Protestaktionen berichtet. So stürmten wenige Stunden nach der Besetzung in Olszytn Anhänger der Bauern-Solidarnosc einen Zug, der mit importiertem Getreide den polnisch-slowakischen Grenzübergang Muszyna passieren sollte. Und Ende vergangener Woche lieferten sich Bauern und die Polizei in Bartoszyce, nahe der russischen Grenze, eine Straßenschlacht. 83 Beamte wurden verletzt.

Ausgerechnet im August, dem traditionellen Ferienmonat, hat sich die politische Stimmung in Polen drastisch verschlechtert. Und das nicht nur bei den Bauern. Nach einer Umfragen des Meinungsforschungsinstitut Cebos ist die Popularität der Regierungskoalition aus dem Wahlbündnis der Solidarnosc (Akcja Wyborcza Solidarnosc; AWS) und der Freiheitsunion (UW) an einem Tiefpunkt angelangt. Die AWS kommt noch auf kümmerliche 16 Prozent, während das oppositionelle Bündnis der Demokratischen Linken (SLD) mit 34 Prozent Zustimmung gut doppelt so viele Anhänger aufweist.

Die Wähler sind unzufrieden, haben sie doch meist eine rasche und spürbare Verbesserung ihrer Lebensqualität erwartet. Die AWS/UW-Koalition war vor zwei Jahren mit dem Wahlversprechen an die Macht gelangt, die seit Anfang der neunziger Jahre eingeleiteten Reformen zu Ende zu führen - neben der Verwaltung wollte sie das Gesundheitswesen, das Rentensystem und den Bildungssektor umgestalten. Ein ehrgeiziges Programm: Der Staatshaushalt sollte konsolidiert und die Wirtschaft für den EU-Beitritt fit gemacht werden.

Doch die Mitte-Rechts-Koalition ist auf dem besten Weg, an ihren eigenen widersprüchlichen Zielen zu scheitern. Denn während sie einen rigorosen Sanierungskurs betreibt, gibt sie - um die eigenen Wähler nicht zu verprellen - den Forderungen der Bauern und Bergarbeiter sowie denen der Beschäftigten aus dem Gesundheitssektor häufig nach.

So kündigte die Regierung Ende vergangenen Jahres an, die Verluste im Bergbau, die damals rund 2,83 Milliarden Zloty (700 Millionen Euro) betrugen, um über die Hälfte senken zu wollen. Dafür sollte die Zahl der Arbeitsplätze von 190 000 auf 115 000 Jobs reduziert werden. Das Arbeitsministerium richtete einen speziellen Fonds ein. 49 200 Zloty, rund 12 000 Euro, bekommt jetzt jeder Bergarbeiter, der aufhört, nach der überflüssigen Kohle zu graben.

Das Vorhaben erwies sich als völlig unrealistisch; allein bis Juli summierten sich die Verluste auf 1,6 Milliarden Zloty (400 Millionen Euro). Die Regierung wurde Opfer ihres eigenen Programms. Der Sozialplan veranlaßte mehr Bergleute als erwartet, in den Ruhestand zu gehen. Um die Kosten einzugrenzen, sollen jetzt zusätzliche Gruben geschlossen werden. Das hat in Südpolen bereits zu den ersten Streiks geführt.

Insgesamt rechnet die Regierung mit einem Verlust von 3,3 Milliarden Zloty für das gesamte Jahr - fast dreimal soviel, wie ursprünglich vorgesehen. Wirtschaftsminister Janusz Steinhoff von der AWS will dennoch keine Kürzungen bei den staatlichen Subventionen vornehmen. "Dies würde einen noch größeren Arbeitsplatzabbau bedeuten. Das Wirtschaftsministerium ist dem Wahlprogramm der AWS verpflichtet und kann einen solchen Plan nicht akzeptieren." Die Bergwerksbetriebe sollen statt dessen mehr Zeit für die Umstrukturierung bekommen.

Solche Aussagen treiben den liberalen Finanzminister und Vizepremier Leszek Balcerowicz zur Verzweiflung. Der sieht seinen gesamten Reformplan in Gefahr. Denn dies "würde bedeuten, höheren Verlusten und höheren Staatsausgaben zuzustimmen, was wiederum zu Problemen bei den öffentlichen Finanzen führen würde - bei der Sozialversicherung, dem Gesundheitswesen und beim Haushalt". Die Regierung werde dem Druck nicht nachgeben und keine weiteren unvorhergesehenen Ausgaben zulassen, sagte Balcerowicz.

Woher der Finanzminister seinen Optimismus nimmt, weiß er vermutlich selbst nicht. Denn längst scheint ihm die Übersicht über die Ausgaben entglitten zu sein. Außer beim Bergbau und der Landwirtschaft steigen die Kosten auch bei der Renten- und Krankenversicherung - und diese Vorhaben bilden den Kern des staatlichen Reformprojekts.

Seit Jahresbeginn werden die Leistungen im Gesundheitswesen über die neu eingerichteten Krankenkassen abgerechnet. Dabei wurde die Beitragssumme an die Höhe der Steuern gekoppelt und zugleich auf einem sehr niedrigen Niveau fixiert. Da die Höhe von der Regierung festgelegt wurde, die Beiträge aber nicht ausreichen, üben die Kassen nun Druck auf die Koalition aus.

Und auch die Rentenreform erweist sich als teurer als geplant. Das Regierungsmodell sieht vor, daß alle, die nach dem 31. Dezember 1948 geboren wurden, zwischen der staatlichen Sozialversicherungsgesellschaft (ZUS) und einem Pensionsfonds wählen oder, je nach Alter, auch beides in Anspruch nehmen können. Die ZUS soll die Grundversorgung sichern, während die Fonds die eingezahlten Gelder auf dem Kapitalmarkt anlegen. Der ZUS sammelt die gemeinsamen Sozialbeiträge von Beschäftigten und Unternehmern ein und überweist einen Teil davon anschließend an die Pensionsfonds. Dem doppelten Modell haben sich bisher fünf Millionen Polen angeschlossen.

Die Rentenreform galt als besonders modern und daher als Lieblingsprojekt von Premierminister Jerzy Buzek. Das Modell hat jedoch einen entscheidenden Nachteil: Es funktioniert nicht. Ein halbes Jahr nach Einführung klagen die Fonds über zu geringe und zu späte Transferzahlungen. "Die ZUS ist einfach nicht in der Lage, die Überweisungen zu tätigen", sagte Henryk Chmielak, Präsident einer Pension-fondsgesellschaft. Die Fonds werfen der ZUS vor, die einbehaltenen Beiträge benutzt zu haben, um deren eigene Rentenbeiträge zu finanzieren. Die Fonds sehen sich nun wegen der permanenten Liquiditätsengpässe in ihrer Existenz bedroht.

Aushelfen könnte die Regierung. Doch die hat keine Ahnung, woher sie die Mittel dafür nehmen soll. Das Haushaltsdefizit hat bereits im Juli mit 12,8 Milliarden Zloty (3,2 Milliarden Euro) nahezu 100 Prozent des für das ganze Jahr zugelassenen Limits erreicht. Die Regierung habe die Kontrolle über die Staatsfinanzen verloren, warnte daher vergangene Woche die Präsidentin der Nationalbank, Hanna Gronkiewicz-Waltz. Sie kündigte eine Erhöhung der Leitzinsen an, sollte sich die Haushaltsdisziplin nicht verbessern.

Für polnische Unternehmen, die vom Binnenmarkt abhängig sind, wäre dies eine fatale Nachricht. Kredite würden teurer, die Nachfrage geringer. Und das in einer Zeit, in der schon längst nicht mehr mit den hohen Wachstumszahlen der vergangenen Jahre zu rechnen ist.

Doch auch aus einem anderen Grunde ist das wachsenden Haushaltsdefizit für die Koalition ein existenzielles Problem. Die Nachricht von dem schnell steigendem Defizit hat bereits zum Rückzug zahlreicher Investoren vom Kapitalmarkt und zur mehrfachen Abwertung des Zloty geführt. Und das könnte sich für die Regierung und die polnische Wirtschaft als noch bedrohlicher erweisen als wütende Bauern und streikende Bergarbeiter.