Dissidenz im Schonwaschgang

Auch die kulturelle Opposition Serbiens spart sich die Kritik am Nationalismus.

Anfang August hängen nur noch an einigen Belgrader Ausfallstraßen große Anti-Nato-Plakate an den öffentlichen Werbeflächen. So am Boulevard der Jugoslawischen Volksarmee, der zu den Fußballstadien der Clubs Roter Stern und Partizan und in die hügelige Villengegend von Dedinje führt, in der man Bodyguards beobachten kann, die das Klischee ihrer Branche nicht scheuen.

In schwarzer Kleidung, mit Handy und Sonnenbrille stehen sie vor den Immobilien der Neureichen, die während der jugoslawischen Sezessionskriege in den Bereichen Popbusineß, Sport und Schwarzmarkt schnell viel Geld gemacht haben. Am Boulevard der JNA hängt neben dem Plakat mit dem Spruch "Done can't be undone. Stop the bombing" die Werbung der Telefon-Firma MP. Soft Group, die Handys von Nokia und Ericsson mit der Garantie versieht: "Wir verkaufen keine amerikanische Scheiße".

"Die Regierung hat gute Werbeagenturen für ihre Kampagnen ausgesucht", erzählt Katarina Zivanovic vom Kulturzentrum Cinema Rex, das zu Kriegsbeginn zusammen mit der Radiostation B-92 dem regierungsnahen Rat der Belgrader Jugend angeschlossen wurde und nun leer steht. "Die Target-Kampagne, die die Bevölkerung als kollektives Opfer präsentierte, wurde von Voja Zanetic entworfen, der vor langer Zeit auch für B-92 gearbeitet hat. Im Interview auf Studio B behauptete er, dieselben Leute, die während der Proteste 1996/97 mit Trillerpfeifen auf die Straße gingen, würden nun das Target-Zeichen tragen, was totaler Quatsch ist, jedoch genau der Mythologie des Systems entspricht."

Wahrscheinlich wird in keiner anderen Stadt im Moment so oft Jean Baudrillard zitiert wie in Belgrad, und zwar nicht, weil seine Theorie-Mischung aus Posthistorie und Postmoderne viele intellektuelle Fans hat, sondern weil Leute aus der Theorie- und Subkultur-Szene in seinem Konzept der Semiokratie und der universal gewordenen Simulation Funktionen der restjugoslawischen Gesellschaft wiedererkennen.

Andauernd werden Dispositive erfunden, um die verlorene kommunistische Idee, den verlorenen subkulturellen Raum, die Urbanität, die Revolte zu simulieren. Paradoxerweise existieren diese Simulationen in einer Gesellschaft, die in den letzten Jahren das mobilisiert hat, was Baudrillard in seiner theoretischen Fiktion einer hyperabstrakten Kontrolle des Sozialen historisch ad acta gelegt hat: Krieg, Mythen heiliger Ethnizität, Militarismus und Erotisierung des Nationalen.

In seinem Text "Endgültige Adresse: Jean Baudrillard, Serbien" schreibt Obrad Savic, Mitglied des intellektuellen Anti-Kriegs-Zusammenschlusses Belgrader Zirkel und einer der wenigen anti-nationalistischen Theoretiker: "Der kulturelle Raum ist zu einer Bühne für schamanistische Riten geworden, auf der immer neue tribalisierende Effekte eines nationalen Opferdiskurses produziert werden. Die ganze Gesellschaft wird auf ihre angeblich ethnische Substanz reduziert, um die ein tragischer Diskurs organisiert wurde, der Leben als Leiden definiert, ontologisch und anthropologisch."

Wenn man genauer hinsieht, erkennt man in Belgrad die Gleichzeitigkeiten von Pop- und Medienkultur, System-Promotion und nationalistischer Erregung, von Baudrillard und Anti-Baudrillard: Die Fußgängerzone Knez Mihajlova erweckt auf den ersten Blick den Eindruck einer ganz normalen Piste des Massenkonsums: Benetton, Replay, Damen- und Herrenkonfektion, volle Cafés, gut gekleidete Menschen. Zuerst fällt auf, daß die Leute fast nichts in den Geschäften kaufen; dann, daß in den Postkartenständern Ansichten von bombardierten Gebäuden zum Verkauf angeboten werden - Beograd 1999: das kaputte Verteidigungsmuseum, das zerstörte ZK-Gebäude, Bilder der bombardierten Herrschaftsarchitektur in der Knez Milosa, durch die Godzilla gestapft sein muß; Ansichtskarten aus einer Stadt, die Ziel einer post-kolonialen militärischen Systemkorrektur von oben geworden ist. Diese Maßnahme hat nicht nur die Netzwerke von Produktion, Versorgung und Medien geschädigt, sondern die alltägliche Organisierung des Politischen und Sozialen getroffen.

Wie Denkmäler eines Anti-Nato-Riots kann man in der Fußgängerzone Knez Mihajlova die verwüsteten Kulturzentren einiger Nato-Staaten besichtigen, das Amerika-Institut, das Goethe-Institut, das britische und das französische Kulturzentrum. Alle Fenster und das Mobiliar sind zerstört, die Wände voll mit Graffiti: Vous tes des putes, Schröder Arschloch, Baader-Meinhof, Hakenkreuz, Flugabwehr Zemun usw. Auch hier folgt mit einigen Wochen Abstand die Simulation dem Riot.

Die ersten drei Tage des Nato-Angriffs hat Dusan Djordjevic vom Belgrader Zirkel in seinem Büro verbracht. Dann ging er auf das erste Konzert am Platz der Republik, wo die Wut über die absurde Situation, zwischen Milosevic am Boden und der Nato am Himmel eingesperrt zu sein, explodierte: "Als nach ein paar Minuten der Luftalarm losging, schrien die Leute mit vor Wut und Zynismus überschnappenden Stimmen: 'Los, kommt schon!' 'Fickt euch!' usw." Sofort koppelte sich die Regierung an und organisierte alle weiteren Rockkonzerte. Und die Verwüstung der ausländischen Kulturzentren war dann schon eine reine Staats-Performance.

Als Höhepunkt politischer Simulation im Jugoslawien vor und nach der Nato gilt die para-kommunistische JUL (Jugoslawische Vereinigte Linke). Vorsitzende ist Milosevics Frau Mira Markovic. Die JUL hat nur einige Prozent Stimmenanteil, stellt aber neben der SPS (Sozialistische Partei Serbiens) und der faschistoiden Radikalen Partei von Vojislav Seselj (SRS) eine Reihe der MinisterInnen. Ein Großteil ihrer Funktionäre sind Direktoren und Manager staatlicher Betriebe. Die Partei gilt als eines der informellen Zentren politischer und ökonomischer Macht.

In einer Stadt, in der fast täglich der Strom ausfällt und RentnerInnen demonstrieren, weil sie mit 100 Mark Pension nicht leben können, klebt die JUL ihre Plakate in Hellblau und Rosa mit den Losungen: "JUL im Juli: Neuanfang und Reformen, Wiederaufbau, internationale Integration". "Das läßt sich damit erklären", sagt Milja Jovanovic, studentische Aktivistin, "daß Mira Markovic Blumen und zarte Farben mag. In Krusevac haben AktivistInnen von Otpor über die Plakate: 'JUL im Juli: Armut und Blutvergießen' gesprayt."

Otpor (Widerstand) ist ein informeller, halb klandestiner studentischer Zusammenschluß, der mit der Unabhängigen Rentner-Union zusammenarbeitet. "Otpor hat sich im Oktober 1998 gegründet", erzählt Milja Jovanovic. "Der Zusammenschluß entstand aus einer Kombination von Ereignissen: das neue Hochschulgesetz, das neue Mediengesetz, der drohende Nato-Einsatz, die zunehmende Repression." Otpor versucht, die kulturellen Zeichen aus den Händen des Systems wieder zurückzuklauen: Flyer verteilen, plakatieren, sprayen. Überall in der Stadt findet man den Schriftzug "Widerstand" neben einer Schablonen-gesprühten Faust.

Am Plato, einem Platz zwischen der Fußgängerzone Knez Mihajlova und der philosophischen Fakultät, an dem seit Jahren die studentischen Demos beginnen, hat die Regierung einen Bauzaun ohne Baustelle errichten lassen, um den Platz zu sperren. Otpor hat die Barrikaden des Systems in eine Plakatwand umgewandelt. Wie bei einem Tapezierwettbewerb reißt die Polizei ab, und Otpor klebt nach: Cartoons von Corax, der Regierung wie Opposition in seinen Zeichnungen verarscht; Zeitungsartikel über neue Beschlagnahmungen und Verbote von nicht-regierungsnahen Medien; Namen von ProfessorInnen, die nach dem neuen Hochschulgesetz gefeuert wurden.

Im Herbst 1998 begannen an der philologischen Fakultät Institutsbesetzungen und Streiks gegen das neue Hochschulgesetz: "Kern des Hochschulgesetzes ist, daß die Regierung den Rektor und der wiederum die Dekane ernennt", sagt Milja Jovanovic. "So wurden vor allem in den Fakultäten Jura, Elektrotechnik, Philosophie und Philologie Dekane installiert, die Mitglieder der JUL oder der Radikalen Partei sind. Zu Beginn des Wintersemesters 1998 war die Hölle los. An einzelnen Fakultäten waren bis zu zehn, fünfzehn ProfessorInnen entlassen worden. An unserem Institut, Philologie, saß nun ein Dekan der Radikalen Partei, Radmilo Marojevic: Der Fachbereich Serbische Sprache wurde aufgebläht. Andere Fachbereiche wurden in wissenschaftlich idiotischen Kombinationen wie Albanisch und Französisch oder Deutsch und Englisch zusammengefaßt. Wir streikten von November bis März. Leider zogen die anderen Fakultäten nicht mit. Anfang März ließ Marojevic das Institut räumen. Er holte Polizeisondereinheiten, die in 'ziviler Uniform' mit schwarzen Lederjacken und Schlagringen auftauchten und uns zusammenschlugen. Das ging einen Schritt zu weit. Nachdem viele Zeitungen darüber berichteten, wurde Marojevic am nächsten Tag ausgewechselt."

Otpor ist eine der ersten Gruppen, die nach dem Krieg in Belgrad Aktionen starteten. Am 22. Juli warfen sie vom Dach des Hauses, in dem die Demokratische Partei ihr Büro hat, Flugblätter mit der Botschaft: "Beißt und tretet das System, bevor es zu spät ist."

Otpor ist symptomatisch für die momentanen politischen Aktivitäten der Dissidenz: Gleichgültig wie scharf die Kritik an der Machtversessenheit und nationalistischen Orientierung der parteipolitischen Opposition ist - nur die Bürgerbund von Vesna Pesic hat seit ihrer Gründung 1994 strikte Anti-Kriegs-Politik betrieben -, setzen fast alle politischen Gruppen auf Volksfrontpolitik. Otpor hat eine "Deklaration für die Zukunft Serbiens" verabschiedet: Entweder die Opposition einigt sich im Laufe des Augusts auf ein gemeinsames Programm, oder die Studi-Organisationen rufen im September zu Demonstrationen auf.

Die Basics lauten: Rücktritt von Milosevic, Neuwahlen unter OSZE-Kontrolle, neues Wahlgesetz, neues Hochschulgesetz, neues Mediengesetz, gemeinsame Wahlliste der Opposition, Übergangsregierung eines wirtschafts- und sozialpolitischen Expertengremiums. Damit richtet sich Otpor an das gesamte oppositionelle Spektrum vom liberal orientierten Bund der demokratischen Parteien über den halb-national, halb-liberal orientierte Bund für Veränderung unter Führung der Demokratischen Partei Zoran Djindjics bis zur nationalistischen Bewegung für ein demokratisches Serbien des ehemaligen Armee-Chefs Momcilo Perisic.

Die Gefahr dieser Wir-alle-gegen-Milosevic-Strategie, die im Weißwaschen politischer Biographien und der Simulation von Opposition besteht, ist schon 1996/97 deutlich geworden, als sich Priester wie der Metropolit Amfilohije Radovic, der für Arkans paramilitärische Tiger-Einheiten an der bosnischen Front gebetet hatte, in die erste Reihe der studentischen AktivistInnen stellten, oder als Djindjic sich als smarter Demokrat mit Ohrring präsentierte, obwohl er noch im August 1994 im Konflikt zwischen Milosevic und Radovan Karadzic auf der Seite der bosnischen Führung gestanden hatte.

Ein Grund für die Volksfront-Stimmung ist die Angst vor einem Einsatz der Polizeisondereinheiten und paramilitärischen Gruppen gegen die Opposition. Ein anderer, daß ohne Einigung der Opposition das monströse Bündnis aus SPS, JUL und SRS nicht wegzukriegen ist.

Symptomatisch für den Zustand der Opposition ist der Versuch, den Begriff des Nationalismus umzuwerten. Damit operieren sowohl Otpor als auch die sozialdemokratische Jugend, die seit drei Wochen Flugblätter auf den Demos in Zentral- und Südserbien verteilt, wo die meisten Reservisten mobilisiert wurden und die SPS ihre traditionelle Stimmenhochburg zu verlieren droht. Das Rezept der Begriffsumdeutung lautet etwa so: "Alle Menschen lieben ihr Land. Das ist normal und richtig, hat aber in der Tagespolitik nichts verloren. Die SPS hat euren Nationalismus betrogen und euch in Chauvinismus ertränkt."

Dieser Politik des nationalen Schonwaschgangs, die versucht, die Massen bei ihrem Patriotismus zu packen und dann auf die Seite eines vermeintlich normalen Nationalismus zu ziehen, verweigern sich nur wenige Gruppierungen. Organisationen, die anti-nationalistisch argumentieren und die Kriegsführung gegen die Kosovo-AlbanerInnen thematisieren, lassen sich an einer Hand abzählen: Women's Studies Center, Frauen in Schwarz, Belgrader Zirkel, Menschenrechtszentrum, Helsinki Komitee. Der Rest der politischen Opposition konzentriert sich auf die Absetzung des "Systems Milosevics", den sozio-ökonomischen Wiederaufbau, die Abschaffung von Sondergesetzen und die Reintegration in die internationalen Organisationen.

Auch die erste Belgrader Massenkundgebung der Oppositionsallianzen am 19. April kreiste um den Rücktritt Milosevics, dem ein Ultimatum bis Anfang September gestellt wurde, und die Einsetzung einer Übergangsregierung. Die Leerstelle, die bleibt, ist die Diskussion über das nationalistische Delirium, das die serbische Gesellschaft seit Ende der Achtziger prägt.