Offensive im Obstgarten

Während in Afghanistan der Vormarsch der Taliban ins Stocken geraten ist, wächst in Pakistan die Gefahr einer islamistischen Machtübernahme

Einen Erfolg hatte wohl niemand ernsthaft erwartet, als in der vorletzten Juli-Woche Vertreter der Nachbarstaaten Afghanistans, der USA und Rußlands in Taschkent einen Friedensschluß zwischen den Bürgerkriegsparteien vermitteln wollten. Schon nach zwei Stunden verabschiedete sich die Delegation der Taliban. Da sie schätzungsweise 80 bis 90 Prozent des afghanischen Territoriums kontrollieren, sehen sie keinen Grund, sich auf eine Koalitionsregierung mit der von Ahmad Schah Massoud geführten bewaffneten Opposition einzulassen.

Nur ein paar Tage später begannen dann auch die ersten Artillerieduelle, am 28. Juli gingen die Taliban in die Offensive. Sie drangen zunächst weit in Massouds Territorium vor und stießen nur auf geringen Widerstand. Doch die Gotteskrieger freuten sich zu früh. Bei einem überraschenden Gegenangriff erlitten die Taliban schwere Verluste, Massouds Truppen stehen jetzt wieder in Artilleriereichweite vor Kabul. Die Kämpfe gehen weiter, aber es sieht danach aus, als würde es den Taliban auch diesmal nicht gelingen, eine militärische Entscheidung zu erzwingen.

Massoud war früher Militärkommandant der islamistischen Jamiat-e Islami, einer überwiegend tadschikischen Organisation. Gemeinsam mit anderen islamistischen Organisationen und Warlords bildete sie die Nordallianz, ein Bündnis ethnischer und religiöser Minderheiten gegen die paschtunischen Taliban. Nachdem die Truppen seiner Bündnispartner weitgehend aufgerieben wurden, ist Massoud heute der unumstrittene Oppositionsführer. Seine Vereinigte Front verfügt über einen Flughafen und kontrolliert einen Teil der Grenze zu Tadschikistan. Sie kann auf die Unterstützung des Iran und Rußlands zählen, die eine Alleinherrschaft der Taliban verhindern wollen.

Ein Sieg der mit Pakistan verbündeten Taliban würde den Weg für eine Pipeline ebnen und beide Staaten aus dem Geschäft mit den Energievorräten Mittelasiens verdrängen. Die mittelasiatischen Staaten, die eine zu große Abhängigkeit von Rußland vermeiden wollen, stehen einer Route über Afghanistan wohlwollend gegenüber. Turkmenistan war, vermittelt über den US-Ölkonzern Unocal, sogar in die Unterstützung der Taliban eingebunden. Mittlerweile dominiert in Mittelasien, ebenso wie in China, die Sorge vor der Ausbreitung islamistischer Bewegungen - wobei der Verweis auf die "islamische Gefahr" allerdings häufig nur ein Vorwand für die Aufrechterhaltung autoritärer Herrschaft ist.

Der politische Islamismus blieb bislang schwach, nur in den bewaffneten Konflikten in Tschetschenien und Tadschikistan konnten sich islamistische Gruppen als Machtfaktor etablieren. Die Wahhabiten, die sich in Dagestan gegenwärtig Gefechte mit russischen Truppen liefern, scheinen unter dem ideologischen Einfluß Saudi-Arabiens zu stehen.

Der Wahhabismus, eine extrem puritanische fundamentalistische Lehre, ist die Staatsideologie Saudi-Arabiens und wird mit beträchtlichem finanziellen Aufwand in der islamischen Welt verbreitet. Ideologisch verwandt ist ihm die pakistanische Deobandi-Bewegung, die politisch von der Jamiat-e Ulama-i Islam (JUI) vertreten wird. In ihren Koranschulen wurden die Taliban ausgebildet.

Während die von den städtischen Mittelschichten getragene Hauptströmung der islamistischen Bewegung eine Entwicklungsdiktatur anstrebt, fehlt diesem "Neo-Fundamentalismus" (so die Bezeichnung des Islam- und Afghanistan-Experten Olivier Roy) der Sinn für die Notwendigkeiten der Modernisierung. Frauen sollen gänzlich vom öffentlichen Leben ausgeschlossen werden. Staatliche Umverteilungspolitik, einschließlich der für jeden Entwicklungsweg unerläßlichen Landreform, wird grundsätzlich abgelehnt.

Dem Neo-Fundamentalismus fehlt jedes soziale Projekt, das Niveau seiner entwicklungspolitischen Vorstellungen dokumentiert eine Rede des Informationsministers der Taliban, Mullah Amir Khan Mutaqqi, im pakistanischen Qetta: "Der Preis für die Ernte eines Obstgartens betrug nur 50 000, während der gleiche Obstgarten heute 400 000 einbringt. Nun entscheidet selbst. Haben sich die ökonomischen Bedingungen unter der Regierung der Taliban verbessert oder nicht?" Für Obsthändler vielleicht. Und auch andere Händler und Transportunternehmer, die vom erleichterten Binnenhandel und mehr noch vom Schmuggel profitieren, unterstützen die Taliban. Ob sich die Bevölkerungsmehrheit die rasante Inflation als wirtschaftspolitischen Erfolg verkaufen läßt, bleibt fraglich.

Die Taliban haben in Afghanistan eine Warlord-Ökonomie etabliert. Straßengebühren, Zölle und vor allem die Kontrolle über die Opiumproduktion finanzieren ihr rudimentäres Staatswesen. Ihre Herrschaft beruht auf der Loyalität lokaler Stammesfürsten und Warlords, die immer wieder neu erkauft oder erzwungen werden muß. Trotz ihres ideologischen Extremismus ähnelt die Herrschaft der Taliban eher dem Regime der Warlords in Somalia als dem islamistischen Iran. Anders als in Somalia stehen hinter den Taliban jedoch ausländische Interessen, ihr Aufstieg wäre ohne die Unterstützung Pakistans, der USA und Saudi-Arabiens nicht möglich gewesen.

Nachdem der Krieg gegen den Irak 1990/91 die islamische Welt gespalten hatte, nahmen zahlreiche islamistische Gruppen, die zuvor mit Saudi-Arabien verbündet waren, eine antiwestliche Position ein und riefen zum Sturz der saudischen Monarchie auf. Als Alternative zu den nunmehr feindseligen afghanischen Mudjahedin-Gruppen, die man im Kampf gegen die sowjetische Armee unterstützt hatte, wurden 1994 die Taliban aufgebaut. Als sich 1996/97 die Zweifel an der prowestlichen Haltung der Taliban mehrten und sich herausstellte, daß sie den saudischen Regimegegner Ussama Bin Laden beherbergten, gingen die USA und Saudi-Arabien auf Distanz.

Bin Laden, der aus einer der reichsten Familien Saudi-Arabiens mit guten Verbindungen zum Königshaus stammt, hatte in den achtziger Jahren CIA-Lieferungen und arabische Freiwillige an afghanische Mudjahedin-Gruppen verteilt. In den neunziger Jahren gehörte er zu den Organisatoren eines Netzwerkes, das die kriegserfahrenen Freiwilligen an islamistische Gruppen in aller Welt verteilte. Diese "Afghanen" kamen in Kaschmir, Tschetschenien, Algerien, Ägypten, Sudan, Somalia und Bosnien zum Einsatz. Größere Bedeutung erlangten sie jedoch bislang nur bei den algerischen Bewaffneten Islamischen Gruppen (GIA).

US-Behörden und FBI schreiben Bin Laden zudem eine Reihe von Anschlägen gegen US-Einrichtungen zu. Ihre Anklageschrift porträtiert das islamistische Netzwerk als zentral gesteuerte Organisation, deren Mitglieder einen Treueeid auf Bin Laden ablegten. Der Prozeß könnte zur Blamage werden, denn weder die zentrale Steuerung noch die Führungsrolle Bin Ladens sind nachweisbar. Das islamistische Netzwerk scheint eher ein lockeres Bündnis von Organisationen und Personen zu sein. Ihr Programm erschöpft sich in rabiater antiwestlicher Rhetorik. Eine strategische Vorgehensweise ist nicht erkennbar, die Übergänge zum Söldner- und Banditentum sind fließend.

Vermutlich waren Mitglieder des islamistischen Netzwerks auch an den Kämpfen in Kargil beteiligt, die fast zu einem Krieg zwischen Pakistan und Indien geführt hätten. Obwohl die destabilisierenden innenpolitischen Folgen mittlerweile unübersehbar sind, setzt Pakistan die Unterstützung der Taliban und den Einsatz islamistischer Gruppen für einen Guerillakrieg im indischen Kaschmir fort.

Diese Politik wird vor allem von Armee und Geheimdienst getragen, die häufig ohne Kontrolle der Regierung agieren. In beiden Institutionen sind Islamisten stark vertreten, ein Militärputsch kann nicht ausgeschlossen werden. In den paschtunischen Grenzgebieten zu Afghanistan schreitet die "Talibanisierung" voran, lokale Politiker drohen mit Separatismus, wenn ihren Forderungen nach weiterer Islamisierung nicht nachgegeben wird. Das wichtigste Bindeglied zwischen den Taliban und Pakistan ist die JUI, die in den neunziger Jahren stark an Einfluß gewonnen hat. Vertreter der JUI drohten den USA Anfang August mit Vergeltungsschlägen, wenn sie in Afghanistan intervenieren sollten. Neben einer Vielzahl von CIA-Agenten befindet sich auch eine unbekannte Zahl von US-Militärs in Pakistan, und gegenwärtig gibt es wieder einmal Gerüchte über eine geplante Kommandoaktion gegen Bin Laden.

Den USA dürfte aber derzeit ein ungleich wichtigeres Problem Sorge bereiten. Da eine islamistische Machtübernahme oder ein Zerfall Pakistans nicht ausgeschlossen werden können, müssen Vorkehrungen für den Fall getroffen werden, daß die pakistanische Atommacht antiwestlichen Kräften in die Hände fällt.