Alternative Lebensformen

Schlaflos nach Warschau

Deutsche Fahrpläne sind eine Institution, die unbedingt ernst zu nehmen ist. Wenn die Abfahrt zum Beispiel mit 22.47 angegeben ist, heißt das, daß der Zug genau um 22.47 den Bahnhof verläßt und nicht etwa gegen 22.48. Angeblich fährt auch unser Zug nach Warszawa um 22.47.

Daß wir uns zu dieser Zeit noch auf der Suche nach dem Bahnhof von Kolobrzeg befinden, von wo aus wir den Nachtzug in die Hauptstadt nehmen wollen, verheißt da eigentlich nichts Gutes. Aber wir sind ja Gott sei Dank nicht in Deutschland. Bereits um 22.48 stolpern wir auch schon durchs Bahnhofsgebäude, über die Gleise - in Deutschland strengstens verboten, aber hier ziemlich lässig gehandhabt - und sitzen schon gegen 22.49 in einem Zug, der aber keinerlei Anstalten macht, sich in Bewegung zu setzen. Kurz vor elf beginnt jemand, eine aufwendige Sicherheitsüberprüfung am Zug vorzunehmen und schlägt mit einem Vorschlaghammer in unregelmäßigen Abständen gegen das Untergestell des Zuges, zwischendurch wird immer mal wieder eine Pause eingelegt. Klasse, diese Polen haben einfach die Ruhe weg, sehr sympathisch, vielleicht wartet man ja noch auf einen besonders säumigen Fahrgast oder stärkt sich erstmal mit Wodka. Gegen 23.15 aber scheinen alle an Bord und alles ausgetrunken zu sein, und es geht los.

Weniger cool ist, daß das teure Luxus-Schlafabteil, das wir eher aus Versehen gebucht haben, weil uns das polnische Wort für "Sonderzuschlag" nicht geläufig war, einfach nicht zu finden ist. Irgendwo im hinteren Teil müßte es aber sein. Dort kommt man nur nicht hin, weil vor den Verbindungstüren zwischen den Waggons schwere Ketten und Schlösser liegen, was nicht gerade für eine relaxte Atmosphäre sorgt. Als die Schaffnerin unsere Tickets in Augenschein nimmt und mit dem Zeigefinger auf ihre Uhr tippt, vermuten wir zunächst, sie wolle sich für die Verspätung des Zuges entschuldigen. Kein Problemski, versuchen wir uns verständlich zu machen, wir seien ja selbst nicht so ganz pünktlich gewesen, wüßten aber jetzt langsam gerne, wo unser Komfort-Schlafabteil ist und unterstreichen unsere Frage gestisch, machen immer wieder die betenden Hände und legen die Köpfe schief. Schlafabteil? Schließlich geht es auf Mitternacht zu, also: Where? Wo? Gdzie? Ou?

Dann erfolgt so eine Art Umschluß, von einem Waggon in den nächsten, bis ganz nach hinten, wo dann aber klar wird, daß es hier kein Schlafabteil für uns gibt, weil dies überhaupt nicht unser Zug ist, denn der ist fahrplanmäßig abgefahren, und zwar um 22.47.