Wo ist der Strippenzieher aus dem Kanzleramt?

Anfang September steht Safwan Eid erneut wegen des Lübecker Brandanschlags vor Gericht. Dennoch blamieren sich linke Verschwörungstheorien auch in diesem Fall.

Die ganze Geschichte klingt wie eine nicht endende Verschwörung. Zehn Monate lang verhandelten Juristen vor dem Lübecker Landgericht, um zuletzt herauszufinden, was ehemalige Bewohner und Bewohnerinnen der Flüchtlingsunterkunft von Anfang an sagten: Safwan Eid kann nicht für den Brandanschlag auf das Gebäude in der Lübecker Hafenstraße am 18. Januar 1996 verantwortlich gemacht werden. Das mußten schon Monate vor Ende des Prozesses im Sommer 1997 alle akzeptieren: Staatsanwälte wie Michael Böckenhauer ebenso wie das Gericht unter Vorsitz von Rolf Wilcken.

Während die Ankläger sich nur gezwungen sahen, keine Verurteilung des libanesischen Asylbewerbers zu fordern, weil seine Schuld "nicht zweifelsfrei" bewiesen sei, gab sich Richter Wilcken forscher. Selbst wenn man alle offenen Fragen "in dubio contra reo" - im Zweifel gegen den Angeklagten - bewerte, gebe es nichts, was Eid belaste, resümierte der Jurist in einer Zwischenbilanz am 23. April 1997. Das klang, als werde die Sache mit dem eindeutigen Unterton ad acta gelegt, mit Safwan Eid habe tatsächlich der Falsche vor Gericht gestanden.

Nur zwei Monate und wenige Verhandlungstage später argumentierte Wilcken bereits vollkommen entgegengesetzt - auch wenn der Prozeß in der Zwischenzeit keinerlei neue Fakten zutage gefördert hatte: Am 30. Juni sprach er den Angeklagten nur noch deshalb frei, weil "im Zweifel für den Angeklagten" geurteilt werden müsse. Weitere vier Monate nach dieser mündlichen Urteilsverkündung blieb auch von den angeblichen Zweifeln nicht mehr viel: In der schriftlichen Begründung, die erst Ende November fertiggestellt wurde, ist von einem schwerwiegenden Verdacht gegen Eid die Rede. Er könnte zumindest als Mitwisser betrachtet werden, heißt es dort. Da "sein Informant ein Familienangehöriger gewesen sein" könnte, brauche der Angeklagte aber niemand zu belasten. Die unzweideutige Botschaft: Die Täter kommen aus der Unterkunft selbst.

Ähnlich unerklärbar ist eine andere Kehrtwende: Räumte Wilcken noch im April die Möglichkeit eines gewaltsamen Eindringens von außen ein, so ist diese "Denkmöglichkeit" nach dem schriftlichen Urteil nicht mehr "ernstlich in Betracht" zu ziehen. Soll heißen: Rechtsradikale scheiden als Täter definitiv aus.

Liest man also, was die Lübecker Richter als letzte Wahrheit über den Brandanschlag festgeschrieben haben, so bleiben jene Essentials übrig, gegen die Kritiker und Kritikerinnen des Verfahrens immer zu Felde gezogen sind: Die Flüchtlinge aus der Hafenstraße haben sich selbst verbrannt, ein rassistischer Anschlag kommt nicht in Betracht. Auf dieses Ergebnis aufbauend, angereichert durch diverse vermeintliche Verdachtsmomente gegen den Beschuldigten, geht der Brandprozeß nun am 3. September vor dem Kieler Landgericht in die zweite Runde. Nachdem der Bundesgerichtshof (BGH) im vergangenen Jahr einer Revisionsklage zweier Nebenklagevertreter rechtgegeben hatte, muß das Verfahren neu aufgerollt werden. Die Begründung: Wilcken hätte im Prozeß die Protokolle abgehörter Gespräche einbringen müssen, die Eid mit Angehörigen nach seiner Verhaftung im Gefängnis geführt hat. Da das Landgericht "gewichtige, den Angeklagten belastende Umstände festgestellt" habe, sei eine Verurteilung mit Hilfe der Abschriften möglich.

Waren also Emissäre der Regierung im Auftrag der nationalen Sache unterwegs, um das Ansehen Deutschlands zu retten? Zumindest vermuteten bereits nach der schnellen Freilassung der tatverdächtigen Grevesmühlener Männer und der ebenso schnellen Verhaftung Eids einige Linke eine direkte Weisung aus dem Bundeskanzleramt. Und hält man denn die Theorie solcher Kräfte, die im Hintergrund die Fäden ziehen, für realitätstauglich, so wäre spätestens jetzt die Linie perfekt: Systematisch wurde das Urteil so verändert, daß Eid vom Unschuldigen zum potentiellen (Mit-)Täter mutierte. Auf der Grundlage frisch festgeschriebener Verdachtsmomente konnte dann eine höhere Instanz weiter operieren. Die Karlsruher Bundesrichter, so die Fortsetzung der Verschwörungsgedanken, führen folglich die Arbeit fort, die Polizei, Staatsanwaltschaft und Gericht in Lübeck besonders perfide eingefädelt haben. Gilt es also, die geheimen Drähte der Böckenhauer-Wilcken-Bande zu entlarven?

Bislang bleibt die Frage unbeantwortet, wie Richter Wilcken zu den Änderungen in seiner Urteilsbegründung gekommen ist. Tatsächlich können die Kieler Richter nun auf anderem Niveau zu Ungunsten Eids agieren. Nur: Wer hat eigentlich Interesse an einer Neuauflage dieses Prozesses? Freilich nicht Safwan Eid. Aber auch im gegnerischen Lager sucht man vergeblich: Die Staatsanwaltschaft hatte freiwillig auf eine Revisionsklage verzichtet.

Auch in den Kreisen, in denen die Täter zu finden sein dürften, wird man nicht darüber begeistert sein, wenn der zehnfache Mord erneut auf die mediale Tagesordnung gesetzt wird. Dort - höchstwahrscheinlich irgendwo im Konglomerat zwischen der Lübecker Kripo, der sogenannten Drogen-Rotlicht-Szene und den durchschnittlich rechtsradikalen Deutschen aus Grevesmühlen - hat man weniger Sorgen um das "Ansehen Deutschlands" oder ähnlichen politischen Firlefanz als um die eigene Haut. Und die könnte freilich spätestens dann gefährdet sein, wenn wieder Journalisten in der Hoffnung auf die eine oder andere Schlagzeile im Dreck dieser deutsch-deutschen Szenerie wühlen.

Schließlich bestimmt im Mediengewerbe weniger die Sorge um den nationalen Konsens als der Warencharakter von Informationen, sprich das schnöde Interesse an Ruhm und Geld, das Geschehen. Seit der Freilassung Safwan Eids im Sommer 1996 ist es eben nicht mehr so, wie etwa die Hamburger Gruppe "Die Uneinsichtigen" im Januar 1999 in einem Jungle-World-Dossier mit Blick auf den anstehenden Prozeß schrieb: "Lassen Staatsanwaltschaft und Gericht einen deutlichen Verurteilungswillen erkennen - gegen alle Fakten - so werden die Medien dem nichts entgegensetzen." Sehen wir mal davon ab, wer eigentlich "die Medien" sind, so bestätigt nicht zuletzt der Spiegel das Gegenteil: Für entsprechend marktfähige Infos legt das Nachrichtenmagazin locker die eine oder andere Mark auf den Tisch. Da interessiert die Frage wenig, ob nun Safwan Eid, der Grevesmühlener mögliche V-Mann Dirk Techentien, der rechtsradikale Knacki Maik Wotenow oder ein Lübecker Kripo-Beamter am Pranger stünde. Hauptsache, die Geschichte wäre für die Hamburger Blattmacher einigermaßen gut zu verkaufen.

Da sich die Strafverfolger selbst wild entschlossen zeigen, die Möglichkeit eine rechtsradikalen Anschlages prinzipiell auszuschließen, könnten es tatsächlich jene Schlagzeilen-Jäger des deutschen Enthüllungsjournalismus sein, die die Mörder von Lübeck eines Tages finden. So absurd und doch banal funktioniert nun mal Kapitalismus: Der Marktmechanismus führt beizeiten dazu, daß ideologische Festungen, wie etwa das Interesse am nationalen Konsens, ganz einfach hintergangen und aus sich selbst heraus in Frage gestellt werden.

Keine Frage: Die Opfer haben, nach allem was ihnen widerfahren ist, ein Recht darauf, daß die Täter gefunden und nach rechtsstaatlichen Normen verurteilt werden. Aus diesem Grund macht die Forderung des Lübecker Bündnisses gegen Rassismus, nach dem die wirklichen Täter vor Gericht gezerrt werden müssen, einen Sinn. Und natürlich, um einen zweiten Freispruch für Eid zu erreichen. Aber sollte es sonst etwa für Linksradikale ein Interesse daran geben, daß die wahrscheinlich ordentlichen deutschen Täter auch von einem ordentlichen deutschen Gericht verurteilt werden, um dann ordentlich lange in einem ordentlichen deutschen Gefängnis zu sitzen?

Zurück zur Verschwörung: Unbestritten ist, das dürften beispielsweise die Ereignisse um den V-Mann Ulrich Schmücker gezeigt haben, daß Verfassungsschützer und andere Organe des Apparates zu allem bereit sind, wenn es gilt, Informanten zu schützen oder loszuwerden. Über 15 Jahre und vier Prozesse dauerte es damals, um nachzuweisen, daß Geheimdienstler in die Ermordung des "2. Juni-Mitglieds" verstrickt waren und Berliner Staatsanwaltschaft sowie Innensenat von diesen Tatsachen bewußt abgelenkt hatten.

Solche oder ähnliche Verbindungen offenzulegen, mag zwar im Bemühen um die Verteidigung des Rechtsstaates ehrenwert sein - sagt aber wenig über die tatsächlichen Verhältnisse aus, in denen der Mord an zehn Asylsuchenden hierzulande stattfinden kann. Zudem stellt sich die Frage, in wessen Interesse dann der BGH der Revisionsklage stattgegeben hat, wenn sich doch weder Staatsanwaltschaft, noch Bundesanwaltschaft, noch der Lübecker Kripo-Sumpf, noch die Grevesmühlener Rechtsradikalen über die Neuauflage des Verfahrens freuen können. Diktierte etwa wieder ein Unterhändler des Bundeskanzleramts den Karlsruher Bundesrichtern das Urteil, um das Ansehen Deutschlands im Ausland zu retten? Wohl kaum.

Nein, um in Analyse und praktischer Kritik voran zu kommen, nützt die Suche nach der Verschwörung der Täter wenig. Im Gegenteil. Der verzweifelte Versuch, hinter jedem rassistischen Verbrechen organisierte Bünde zu wittern, weist genau in die falsche Richtung. Wer so argumentiert, benutzt gefährliche Muster und Ideologien und vernachlässigt, daß sich die herrschenden Denkmuster im Bewußtsein der einzelnen Subjekte reproduzieren. Schließlich waren es die akzeptierte Medien-Inszenierung der ersten Monate nach der Tat sowie die kollektive deutsche Selbstzufriedenheit mit der Vorstellung, die Ausländer hätten sich mal wieder selbst angezündet, die die Brutalität der Verhältnisse erst auf den Punkt brachten.

Es braucht eben keinen Geheimbund, um einen Staatsanwalt zu einseitigen Ermittlungen gegen einen Nichtdeutschen zu bewegen. Das machen Sozialdemokraten wie Michael Böckenhauer auch ohne Anleitung. Es braucht auch nicht, um die entsprechende Medienberichterstattung zu gewährleisten, einen die Nachrichtenagenturen kontrollierenden CIA, wie er einst von Linksradikalen messerscharf entlarvt wurde. Auch das machen Journalisten ganz von selbst, und häufig weniger kontrolliert und weniger geradlinig, als manchem linken Analytiker recht ist.

Und es braucht noch weniger die permanente Manipulation der Massen, um rassistischen Terror im deutschen Interesse hoffähig zu machen. Der vermeintlich verführte Prolet weiß schon selbst, wie er die Informationen filtern muß, damit das Weltbild stimmt.