Ganz ohne Böckenhauer

Zum Auftakt des zweiten Prozesses um den Lübecker Brandanschlag konnten vor allem die Verteidigerinnen Safwan Eids auftrumpfen

Jochen Strebos will ganz von vorne anfangen. Die alten Streitigkeiten, die offenen Fragen aus vergangenen Tagen, die Männer aus Grevesmühlen, nein, davon will der Kieler Richter nichts hören: "Die Vergangenheit lassen wir außen vor." Fehlanzeige. "Wäre das Verfahren nicht von Beginn an geprägt von einseitigen Ermittlungen der Lübecker Staatsanwaltschaft, müßten wir uns heute hier nicht versammeln und erneut über das schreckliche Ereignis verhandeln." Kurze Stille. Der Konter von links sitzt. Barbara Klawitter wirft einen freundlichen Blick über den Rand ihrer Brille, knapp über ihren Laptop hinweg, auf die Richterbank.

Schon beim ersten Schlagabtausch, den sie und ihre Kollegin Gabriele Heinecke vor der Kieler Jugendkammer führen, sind die beiden Verteidigerinnen eindeutig die Siegerinnen. 1:0 für ihren Mandanten Safwan Eid. Auch wenn Nebenkläger-Vertreter Wolfgang Claussen auf der Rechten eifrig widerspricht. Von einseitigen Ermittlungen könne nicht die Rede sein, schimpft der Anwalt in den ovalen, blaßrosa-grau gehaltenen Verhandlungssaal hinein.

Vor allem dem Advokaten Claussen haben Eid, Klawitter und Heinecke zu verdanken, daß man nun seit vergangenen Freitag wieder zusammentrifft. Und natürlich dem Bundesgerichtshof. Vor den Karlsruher Richtern hatte Claussen erfolgreich auf eine Revision des Verfahrens geklagt. Daß das Lübecker Gericht im Sommer 1997 den libanesischen Asylbewerber Eid von der Verantwortung für den Brandanschlag auf die Flüchtlingsunterkunft in der Ostseestadt freigesprochen hatte, wollten der Anwalt und seine Mandanten nicht hinnehmen.

Diese, die Angehörigen der Familie El Omari, hatten bei dem Feuer vom 18. Januar, dem insgesamt zehn Menschen zum Opfer fielen, selbst einen Sohn verloren. Nun hoffen sie, womit außer ihnen praktisch niemand rechnet: Daß Protokolle abgehörter Gespräche, die Eid im Gefängnis mit Angehörigen führte, die Schuld des Libanesen bestätigen könnten. Der Lübecker Vorsitzende Richter Rolf Wilcken hatte die Aufzeichnungen erst gar nicht ins Verfahren eingeführt, weil der Lauschangriff möglicherweise illegal gewesen war. Dieser Einschätzung wollten zwar weder Staatsanwaltschaft noch Bundesanwaltschaft zustimmen, doch von der strafrechtlichen Tauglichkeit der Protokolle hielt man auch bei den beiden Behörden wenig. So rechnet Bundesanwalt Gerhard Altvater auch jetzt nicht damit, "daß das Landgericht den Angeklagten auf der Grundlage derartig schwacher Beweise verurteilt".

Kein Wunder: Fünf Sprachexperten haben die Ermittler auf die abgehörten Gespräche angesetzt, und noch immer weisen die Interpretation derartige Differenzen auf, daß eine strafrechtlich relevante Zuordnung nicht möglich ist. Zuletzt beschäftigte sich damit ein Berliner Sprachspezialist, der den Tripoli-Dialekt der Eids perfekt beherrscht. Doch selbst er kam zu keinen neuen Erkenntnissen. Dennoch setzt die Familie El Omari darauf, daß der Beschuldigte überführt wird. Als einzige der ehemaligen Bewohner und Bewohnerinnen des Hauses sind sie von der Schuld des Libanesen überzeugt. "Mörder" beschimpften sie ihn nach dem Lübecker Freispruch im Gerichtssaal. Um solchen Eskalationen vorzubeugen, sind Eids Angehörige jetzt nicht nach Kiel gekommen.

Noch einer fehlt: Der Lübecker Staatsanwalt Michael Böckenhauer. Den hätten Heinecke und Klawitter gern als Zeugen vor der Jugendkammer gesehen. Allein seine Aussage werde bestätigen, daß die Vorwürfe gegen ihren Mandanten nie stichhaltig gewesen seien, sagen sie. Ganz offensichtlich habe Böckenhauer damals einseitig ermittelt - gegen den Libanesen und zum Schutz der tatverdächtigen deutschen Männer. "Dieses Verfahren gegen Safwan Eid hätte nie stattgefunden", resümiert Anwältin Heinecke, wenn die Spur nach Grevesmühlen konsequent verfolgt worden wäre. Dort säßen schließlich die Verdächtigen - jene vier Männer, die in der Tatnacht vor dem Haus kontrolliert und bei denen man am nächsten Tag Brandspuren festgestellt wurden.

Wieder die Vergangenheit. Erneut ist Richter Strebos damit konfrontiert, daß sich die komplexe Geschichte dieses Verfahrens nicht wegdenken läßt. Nachdenklich, immer bemüht, keine Verunsicherung zu zeigen, reagiert er: "Wenn es, wie die Verteidigung meint, die Grevesmühlener waren, können die Indizien gegen Safwan Eid nicht viel hergeben." Nun ist es Strebos selbst, der den Name der Mecklenburger Kleinstadt ins Spiel bringt. Dabei war auch er bemüht, genau diesen Kontext aus dem Verfahren endgültig zu verbannen. 2:0 für die Hamburger Rechtsanwältinnen. Den Antrag, Böckenhauer zu laden, lehnt der Senat freilich ab.

Überhaupt: Böckenhauer fehlt. Gemeinsam mit seinem Kollegen Axel Bieler sorgte der bekennende Sozialdemokrat während des Lübecker Prozesses für klare Fronten. Der Strafverfolger war immer für eine Überraschung gut. Etwa, wenn ihm die Verteidigung Einseitigkeit vorwarf oder nach jenen Beweismitteln fragte, die sich in den Räumen der Ermittler verflüchtigt hatten. Aber nun muß ein Mann namens Andreas Martins ran: farblos und bisher zu zeigen bemüht, daß er wirklich nichts mit der ganzen Angelegenheit zu tun haben will. Gelangweilt verliest der Kieler Staatsanwalt genau jene Anklageschrift, die Böckenhauer im Mai 1996 zur Grundlage des ersten Prozesses machte. Und beteuert eindringlich, daß er nicht ein Wort überarbeitet habe.

Denselben Eindruck machen auch die Transparente, die den Weg zum Eingang des Kieler Gerichtsgebäudes säumen. "Deutschland spricht sich frei", heißt es da. Und: "Freiheit für Safwan Eid. Die Nazis vor Gericht." Etwa 70 Antirassisten und Antirassistinnen sind es, die am frühen Morgen dort stehen, viele von ihnen aus der schleswig-holsteinischen Landeshauptstadt. Gegen 8.30 Uhr die erste Kundgebung: Eine Sprecherin macht darauf aufmerksam, daß mit dem Nigerianer Victor Atoe einem Opfer des Brandanschlages die Abschiebung droht, obwohl Bundesinnenminister Otto Schily allen einen gesicherten Aufenthalt zugesagt hat. Neun Uhr: Prozeßbeginn. Dann, in der Mittagssonne, Techno und Volksküche. Man kennt sich, grüßt sich mit Namen. Einige fehlen, andere sind seit dem ersten Tag nach dem Brandanschlag aktiv. Schon damals waren es nicht gerade viele, die sich um den Anschlag und seine rassistische gesellschaftliche Inszenierung kümmerten. Den weiten Weg nach Kiel finden noch weniger.

Immerhin: Mit zahlreichen Veranstaltungen über den "Lübecker Brandanschlag und die deutschen Verhältnisse" wird in Hamburg mobilisiert. Regelmäßig wollen zudem Prozeßbeobachter ihre Berichte ins Internet stellen. Und während sich beim Lübecker Verfahren noch einige Vereinchen untereinander spinnefeind waren, scheint diese Spaltung im linksradikalen Mikrokosmos mittlerweile überwunden. So rufen verschiedenste Gruppen in einem gemeinsamen Flugblatt zur Kundgebung auf.

Vergangenheitsbewältigung. Richter Strebos hatte sich die Sache ganz anders vorgestellt. Nicht nur, was die Rolle der verdächtigen Deutschen in diesem Verfahren angeht. Für den Ablauf hatte er sich einen etwas außergewöhnlichen Plan ausgedacht. Durch die Vernehmung von Gutachtern, Sozialarbeitern und Kripo-Beamten wollte der Richter zunächst alle Indizien sammeln, die den Angeklagten belasten könnten. Dann hätte eine Zwischenbilanz ergeben sollen, ob überhaupt genügend potentiell Belastendes vorliegt, um gegen den Libanesen weiter zu verhandeln.

Eine Strategie, die auf den ersten Blick überzeugend wirkt. Schließlich hätte so der Prozeß schnell beendet werden können. Doch Safwan Eid selbst ist skeptisch. "Dann hätte man wohl erstmal wieder kübelweise Scheiße über mich auskippen können", sagt er draußen. Drinnen, vor Gericht, will er sich nicht mehr äußern. Seine Verteidigerin Heinecke hält mit scharfen Worten gegen den Plan von Strebos: Er sei eine unzulässige "Vorverlagerung der Beweiswürdigung", die die einseitigen und fehlerhaften Ermittlungen fortsetzen würde. Es gehe nur um die Abhörprotokolle, also müßten diese zuerst verhandelt werden, sagt die Anwältin dem Vorsitzenden, begleitet von einem weiteren freundlichen Blick ihrer Kollegin Klawitter auf die Richterbank.

Der Ton macht die Musik. Nachdem dann noch Nebenkläger Claussen, wenn auch aus ganz anderen Gründen, den geplanten Verfahrensablauf in Frage stellt, zieht sich das Gericht zurück. Mittagspause. Dann, nach einem internen Gespräch der Beteiligten, die Entscheidung: Die Abhörprotokolle werden am Anfang des Prozesses stehen, lediglich aus verfahrenstechnischen Gründen soll vorher noch ein Zeuge vernommen werden. Mit einem zufriedenen Grinsen verlassen die beiden Verteidigerinnen den Kieler Gerichtssaal. Und Richter Strebos wird wohl umdenken müssen.