Le premier aimé

An der Beliebtheit des französischen Premierministers Jospin vermag nicht einmal Daniel Cohn-Bendit zu kratzen

Kann Lionel Jospin übers Wasser laufen? Es sogar in Wein verwandeln? Diese Frage scheint sich aufzudrängen, wenn man sich die Erfolgskurve des seit Juni 1997 amtierenden französischen Premierministers betrachtet. Seit über einem Jahr hält sich der sozialistische Regierungschef konstant gut bei den Beliebtheitsumfragen: Mal liegt er knapp oberhalb und mal knapp unterhalb der 60-Prozent-Marke.

Vom positiven Ansehen der Exekutive profitiert aber auch der stärkste politische Gegenspieler Jospins, der aus einer bürgerlichen Partei stammende Staatspräsident Jacques Chirac. Zum Vergleich: Unter dem konservativen Amtsvorgänger Jospins - Chiracs Parteifreund Alain Juppé, der zwischen 1995 und 1997 als Premier amtierte - lagen die positiven Meinungswerte für den Regierungschef schon nach wenigen Wochen im Amt bei nur 25 Prozent. Und dem Staatschef selbst erging es seinerzeit kaum besser.

Doch bis zum Beweis des Gegenteils muß man davon auszugehen, daß auch Jospin keine Wunder vollbringen kann. Tatsächlich verdankt er seinen Platz in der politischen Beliebtsheitsskala der Tatsache, daß die Arbeitslosigkeit in den letzten beiden Jahren konstant - auf derzeit 11,3 Prozent - zurückgegangen ist und zugleich der Binnenkonsum der französischen Bevölkerung einen starken Aufschwung erlebte.

Dafür können zwar Jospin und seine Regierung wenig - sie nutzen vielmehr eine positive Konjunkturlage, die etwa zeitgleich mit dem Regierungswechsel zur Jahresmitte 1997 einsetzte. Rund 675 000 Arbeitsplätze sind in den letzten eineinhalb Jahren geschaffen worden, zwischen 75 und 80 Prozent davon basieren freilich auf prekären Arbeitsverhältnissen. Nur 85 000 dieser Stellen gehen auf die Versuche der Regierung zurück, die 35-Stunden-Woche durch ein Tauschgeschäft mit dem modernisierungswilligen Flügel des Kapitals (Arbeitszeitverkürzung gegen Flexibilität) einzuführen und dadurch ein Minimum an politischen Eingriffen in den Arbeitsmarkt auszuüben.

Hinzu kommt, daß sich die konservative Opposition selbst ausmanövriert hat. Denn die Mehrzahl der neoliberalen "Reformen", für deren Durchsetzung sie 1995 angetreten war, sind mittlerweile durch die Jospin-Regierung auf sanftere und mitunter "konsensuelle" Art durchgezogen worden.

So kann sich Lionel Jospin offen auf die Präsidentschaftswahl im Jahr 2002 vorbereiten, um mit den besten Chancen für das Amt des Staatschefs zu kandidieren. Umstritten ist unter seinen Beratern nur noch, ob er bis dahin im Amt bleibt oder aber - so die Pessimisten, die nicht an ein langes Andauern des Konjunkturhochs glauben - lieber im Laufe des Jahres 2000 unter einem Vorwand zurücktritt.

Auch bei politischen Differenzen hat die Linkskoalition mehr mit sich selbst zu tun als mit der konservativen Opposition. Lautstark zu Wort melden sich seit einigen Wochen die französischen Grünen, während die KP sich auf ihrer Sommeruniversität Ende August in trister Atmosphäre eingestand, daß wohl in naher Zukunft "die Existenzfrage einer Kommunistischen Partei in Frankreich" (so KP-Sekretär Robert Hue) anstehe.

Den ganzen Sommer über verlangten die Grünen, daß ihr gutes Abschneiden bei den Europaparlamentswahlen im Juni 1999 berücksichtigt werden müsse, daß ihnen nun mehr als nur das Umweltministerium im Kabinett zustehe. Ihr Listenführer bei der EP-Wahl, Daniel Cohn-Bendit, verlangte zudem wiederholt, von Lionel Jospin empfangen zu werden. Seit der "Sommeruniversität" der grünen Partei in den letzten Augusttagen hat Cohn-Bendit nunmehr den Ton verschärft; er und sein Mitstreiter No'l Mamère drohten, die Grünen würden die Regierung verlassen, falls diese nicht das Verhältniswahlrecht (das kleinere Parteien begünstigen würde) einführte.

Die grüne Umweltministerin Dominique Voynet sprach sich zwar gegen die Drohung mit dem Koalitionsbruch aus, zog aber andererseits - unter dem Druck der grünen Parteibasis - nach und kündigte ein Ende der Regierungsbeteiligung an, falls Frankreich ohne vorherige Volksbefragung neue Atomkraftwerke - den EPR-Reaktor von Siemens / Framatome - errichte.

Hinter diesen verbalen Angriffen verbirgt sich mehr als der Vorwurf, daß "grüne" Themen tatsächlich nur in geringem Maß in die Regierungspolitik einfließen. Es geht um einen Richtungsstreit, der von Voynet einerseits und Cohn-Bendit andererseits personifiziert wird. Hier stehen die Verfechter einer Richtung, die die Grünen als reformistische Partei am linken Rande der Sozialdemokratie (Voynet) positionieren will, jenen gegenüber, die - wie Daniel Cohn-Bendit - die Grünen außerhalb der von ihnen sogenannten traditionellen Linken ansiedeln wollen.

Für Cohn-Bendit, der dieses Konzept aggressiv auf der Sommeruniversität der Grünen im bretonischen Lorient vortrug und dabei auf erhebliche Widerstände aus der Partei (der er postwendend "theoretische Faulheit" vorwarf) stieß, heißt das Zauberwort "dritte Linke". Dieses neuzugründende "Projekt" wird so charakterisiert, daß es in "postmateriellen" gesellschaftspolitischen Fragen "links" steht - bei der Legalisierung weicher Drogen, bei den Rechten von Homosexuellen bzw. unverheirateten Paaren sowie bei den Rechten für - auch "illegale" - Immigranten.

Gleichzeitig aber soll es in ökonomischen Fragen "keine Tabus" mehr geben. Für Cohn-Bendit bedeutet dies, daß "es nicht unbedingt links ist, bestimmte Rentenregime - beispielsweise im öffentlichen Dienst, für deren Erhalt 1995 gestreikt wurde - zu verewigen" und daß es "verrückt wäre, aus Prinzip gegen die Flexibilität der Arbeitskräfte zu kämpfen". Schließlich lobt er den neoliberalen Vorstoß von Gerhard Schröder und Tony Blair, die "das einzig Neue auf der Linken" darstellen und deren gemeinsames Papier jedenfalls den Verdienst hat, daß es existiert".

Mittlerweile hat selbst Cohn-Bendits Mitstreiter No'l Mamère seinen Chef vor wirtschaftspolitischen Positionen gewarnt, die ihn "rechts von dem Ultraliberalen Alain Madelin" positionieren würden. So die Wortwahl Maméres in einem Interview mit Le Figaro vom Freitag letzter Woche. In der derzeitigen materiellen Schön-Wetter-Periode erhalten die zugleich kulturell-libertären und wirtschaftsliberalen Thesen, die Cohn-Bendit lautstark vertritt, großen Auftrieb.

Auch die bürgerlich-konservative Rechte nähert sich derzeit diesem Mainstream an. Ihre beiden stärksten Parteien, RPR und UDF, leisteten auf ihren Sommeruniversitäten Selbstkritik: Im Hinblick auf die individuelle Entfaltung hätten sie "das Frankreich von gestern gegenüber dem heutigen Frankreich bevorzugt", erklärte zum Beispiel RPR-Generalsekretär Nicolas Sarkozy.

Innerhalb der christdemokratischen UDF kam sogar die katholisch-fundamentalistische Abgeordnete Christine Boutin unter heftigen Druck. Seit Monaten kämpft sie, im Parlament sogar mit der Bibel in der Hand, gegen den "zivilen Solidaritätspakt" Pacs - eine Art Ersatzehe, die auch für Homosexuelle gelten soll.