Großer Rummel, kleiner Kanzler

Gefährliche Orte LXXII: Neuberliner Gerhard Schröder ganz volksnah beim Kanzlerfest

Der Mann mit dem Schnauzer hat Glück gehabt. Breit grinsend steht er vor dem Pressezelt, das Brandenburger Tor im Rücken, den Zettel mit der Kanzler-Signatur in der rechten Hand: Gerhard Schröder hat unterzeichnet. Jetzt kann man sich auch wieder bewegen, gerade eben war noch Schröder-Stau: Ungefähr 30 Fotografen, Kameramänner und Schröder-Guards mit Knopf im Ohr drängten sich auf dem Weg von der großen Bühne zum Medienzelt um den Kanzler herum. "Den kann man ja gar nicht sehen, so klein ist der", ruft eine, die auch mit Kugelschreiber und Postkarte in der Hand hinter dem Kanzlerpulk her ist. Sie geht leer aus.

Kein Wunder, daß der Mittfünfziger stolz auf sein Autogramm ist. Auch wenn er Schröder gar nicht gewählt hat: "Zweitstimme FDP und mit der ersten den CDU-Direktkandidaten in meinem thüringischen Wahlkreis." Was er dann überhaupt mit dem Autogramm vom SPD-Chef will? "Das schicke ich nach Hongkong. Dort wohnt ein Freund von mir, der hat schon immer SPD gewählt."

Sonntagvormittag am Brandenburger Tor. Zum Kanzlerfest ist echtes Kaiserwetter am Hauptstadthimmel - und das, bevor "er" überhaupt da ist. Um halb elf legt die Bundeswehr-Big-Band auf der Großen Bühne mit dem Warm-up los - so muß es sein, wenn der erste bundesdeutsche Kriegskanzler sein Volk zum Bürgerfest lädt. Oberstleutnant Roland Kuckert und seine Kapelle begrüßen die Hauptstadtbürgerinnen und -bürger mit dem Fliegermarsch von Hermann Doster. "Passend zur Uniform der Luftwaffe", erklärt der Oberstleutnant, schließlich stünden hier 24 Langzeitdienende aus dem Luftwaffenstützpunkt Euskirchen auf der Bühne.

Und, kurz bevor pünktlich um elf der Kanzler zum Bad in der Hauptstadtmenge erscheint, steigt noch eine Sängerin "von einem fernen Kontinent - aus Afrika nämlich" zu den Soldaten auf die Bühne. "Als Vorgeschmack auf die vielen Botschaften, die bald in der Hauptstadt zu finden sein werden", bekennt sich der Oberstleutnant im Namen der Bundeswehr zur Weltstadt Berlin. Und zu deutscher Tradition: "Unser Gast kommt aus Sambia. Ich kannte das Land bislang gar nicht - aber man lernt ja nie aus."

Erst als der Chef kommt, hat die Bundeswehr Sendepause. Der Kanzler hat schließlich was Interessantes zu erzählen: Am Freitag - nachdem ihn Sat.1-Moderator Johannes B. Kerner im Namen der Berlinerinnen und Berliner begrüßt hat - habe er mit Frau und Tochter sein neues Haus in Dahlem bezogen. Und, das hätten ihn die vergangenen elf Monate im Bonner Kanzler-Bungalow gelehrt, in der Hauptstadt lasse es sich besser leben als im Übergangsheim am Rhein. Als Regierungschef hat man es in Bonn eben nicht leicht: "Wenn man im Kanzlergarten wohnt, bei all den Sicherheitsmaßnahmen, dann kann man gleich in den Hochsicherheitstrakt ziehen."

Macht er aber nicht! Statt dessen geht es von der Bühne weiter Richtung Pressezelt, dort gibt der Kanzler etwa ein Dutzend Autogramme und zieht weiter. Das Hotel Adlon rechts liegen gelassen, das Europa-Haus links, bewegt sich Schröder fort wie in der Regierung: in Schlangenlinien. Zwischen der Kindersuch- und Wickelstelle und der Euro-Baracke ist gerade genug Platz, damit der Kanzler und seine Medien- und Sicherheitsbegleiter sich durchzwängen können.

Und dann schallt es von weit oben: "Herr Bundeskanzler!" Gott? Der fliegende Elefant Dumbo? Bomber Harris? Leider nein. Ein Haufen Fotografen hat eine von der Berliner Zeitung aufgestellte Hebebühne besetzt und verlangt nun: "Bitte lächeln". Der Kanzler lächelt, ist ja auch sein Job. "Ja, so ist's gut!" Und Schröder gibt auch noch ein Autogramm.

Manchmal erledigen das seine Parteigenossen für ihn. Walter Momper beispielsweise - der wieder werden will, was er vor zehn Jahren war: maueröffnender und häuserräumender Regierender Bürgermeister. Deshalb drängelt er sich neben dem Kanzler über

die Linden - unterzeichnet Postkarten, Programmhefte und was ihm sonst noch entgegengehalten wird. "Nicht den Stadtplan", meckert ein Mann im Streifenhemd seine Frau an, "den krieg' ich doch nie wieder." Ein anderer, der eigentlich ein Autogramm vom Kanzler haben wollte, steht nun enttäuscht mit dem Kürzel des Ex-Bürgermeisters da: "Ach, Momper - den kannste doch vergessen."

Otto Schilys Auftritt ist genauso uninteressant. Wer kommt schon zum Kanzlerfest, um einen Innenminister zu sehen. Wie zufällig schlendert Schily am Kanzlerpulk vorbei, als sich dieser langsam dem Zelt des Verteidigungsministeriums nähert. Flankiert von gerade mal drei Bodyguards. Autogramme will keiner von ihm haben. Der Pöbel will Schröder - sehen, hören und anfassen. Am letzten Krombacher-Stand vor dem Zelt der Hardthöhe, fahren vier Bierbäuchige aufgeregt hoch: "Da kommt ja der Kanzler direkt an uns vorbei", ruft einer und verschüttet sein Bier zum Teil auf den Boden. Schade eigentlich. Und zu sehen bekommt er ihn dann doch nicht. "Hat der sich schon wieder verkrümelt? Den Momper habe ich ja noch gesehen, aber den Schröder nicht." Ob das wohl an der Körpergröße des Kanzlers liegt? "Ich wußte gar nicht, daß der so klein ist", heißt es enttäuscht.

Dann ist die Feldküche des Verteidigungsministeriums erreicht. Gruppenbild mit Bundeswehrköchen, dazu reicht Obergefreiter Böttger dem Regierungschef eine Plastikschale mit Erbsensuppe. Zwei Löffel schluckt er, dann zerschellt weiter hinten ein Glas. Die Security-Männer zucken erschreckt zusammen - aber der Kanzler, er lebt noch. Ein Mann mit Glatze bekommt glänzende Augen. Nein, ein Schröder-Autogramm wolle er gar nicht, der Anblick des Neuberliners allein genüge ihm schon. Ob er Schröder gewählt hat? "Na klar, ich wähle immer SPD."

Und dann ist es auch schon vorbei. Obwohl nicht einmal ein Viertel der Linden zurückgelegt ist, gibt der Chef-Bodyguard das Signal zum Umkehren: zurück zum Ausgangspunkt, dem Brandenburger Tor. Für die vielen Autogrammwünsche bleibt jetzt keine Zeit mehr, schließlich soll Schröder zum Abschluß noch der Berliner Zeitung Rede und Antwort stehen. Und noch ein Krombacher trinken. Volksnah halt, ist ja ein Bürgerfest. "Da kommt er, Herr Laufer", ruft eine Frau im Krombacher-Hemd aufgeregt. Denn Laufer ist für das Kanzler-Bier zuständig. "Herr Laufer, wo ist das Bier?" fragt die Krombacher-Frau, als Laufer schon drei Gläser über die Köpfe der Fotografen hinüberreicht. Eins für den Kanzler, zwei weitere für die beiden Männer, die zum Kanzlerhandschütteln die ganze Zeit brav am Krombacher-Tisch gewartet haben.

Ohne sein Glas Bier ganz zu leeren, verschwindet der Kanzler wieder. Mitsamt seinem Betreuerpulk. Zurück kommt kurze Zeit später nur ein Schweizer mit Ziegenbart, der sich freut, als hätte er im Lotto gewonnen: "Ich hab mit'm Kanzler angestüßt." In Zürich wäre ihm sowas nie passiert.