La Vida Loca im Knast

Mit einer kleinen Amnestie für politische Gefangene will Präsident Clinton die US-Kolonie Puerto Rico ruhigstellen

"Livin' la Vida Loca" - ein verrücktes Leben leben, die Diskotheken der USA erbeben in diesem Sommer unter einer Latin-Welle. Auf MTV, noch immer dem Trendsetter in Sachen Boygroup-Ästhetik, war der schweißglänzende, haarlose Oberkörper des Sängers Ricky Martin angesagt. Der 24jährige macht kein Geheimnis daraus, daß er in einem früheren Leben Enrique Mart'n Morales hieß, daß er zwar US-Staatsbürger ist, aber aus der karibischen Kolonie Puerto Rico stammt und "nie aufhören wird, spanisch zu singen".

Heute ist das in den USA kein Geschäftshindernis mehr: Latino-Kultur ist beliebt, längst nicht mehr nur bei den Hispanics, der am schnellsten wachsenden Bevölkerungsgruppe nördlich des Rio Grande (Jungle World, Nr. 31/99). Und Puerto Rico ist ein Teil der USA geworden, mit glänzenden Shopping Malls, mit sechsspurigen Highways und Drive-In-Schnellrestaurants. Wen stört es bei soviel Wohlstand noch, daß die Karibik-Insel seit hundertundeinem Jahr einem Besatzungsstatut unterliegt, das ihre Bewohner zu US-Bürgern zweiter Klasse macht - ohne das Recht, sich an Wahlen zu beteiligen, ohne stimmberechtigte Repräsentation im US-Kongreß?

"Que vida loca" - das werden sich in diesen Wochen vierzehn Puertorrique-os gedacht haben, die schon lange in keiner Diskothek mehr waren, weil sie seit Anfang der achtziger Jahre in Gefängnissen einsitzen, die über die gesamten Vereinigten Staaten verteilt sind. Und das, obwohl unter den fünf Frauen und elf Männern nur einem einzigen die Beteiligung an einer Gewalttat - einem Bankraub - nachgewiesen werden konnte. Die Vorwürfe lauteten auf "aufwieglerische Verschwörung". Die Anklage stützte sich meist allein auf die Mitgliedschaft bei der puertoricanischen Guerilla-Gruppe Fuerzas Armadas de Liberaci-n Nacional (FALN) - die in den siebziger Jahren mehr als hundert Bombenanschläge in den USA verübte - oder den "Macheteros" des Ejercito Popular Boricea (EPB). Die Urteile: zwischen 35 und 90 Jahren Haft.

Richtig loco wurde es im August. Mitten in den Washingtoner Parlamentsferien bot Präsident William Clinton den 14 Häftlingen sowie zwei ehemaligen Gefangenen, die ihre Haftstrafen schon abgesessen haben und jetzt noch hohe Geldbußen bezahlen müßten, an, ihre Reststrafen zu suspendieren. Dafür müßten sie sich an umfangreiche Auflagen halten: Sie sollten der Gewalt sowie deren Befürwortung abschwören, vor allem aber sollten sie künftig keinerlei persönliche Kontakte mehr miteinander pflegen. Sollten sie sich je wieder miteinander treffen, müßten sie ihre Reststrafen antreten. Das gilt auch für die beiden Schwestern Ida Luz Rodr'guez und Alicia Rodr'guez, verurteilt zu Strafen von 75 und 55 Jahren.

So richtig glücklich ist mit Clintons Vorstoß - außer dem Präsidenten selbst und einigen wenigen seiner Parteifreunde - kaum jemand. Die Mehrzahl der Puertorrique-os in den USA und auf der Insel selbst ärgert, auch wenn sie sich nicht unbedingt mit den Zielen der independistas identifizieren, daß Clinton nicht unterschiedslos allen Gefangenen eine bedingungslose Begnadigung gewährt hat. Die Solidaritätsbewegung stört sich vor allem an den lebenslang geltenden Bewährungsauflagen, die "eine zusätzliche Bestrafung und Demütigung" darstellen, wie ein Komitee aus Chicago formulierte. Zwei der Gefangenen, die zu Strafen von 55 und 70 Jahren verurteilt wurden, haben deswegen angekündigt, auf den von Clinton angebotenen Deal nicht einzugehen und lieber im Gefängnis zu bleiben. Der Rest hat letzte Woche ja gesagt. Noch am Freitag wurden die ersten von ihnene freigelassen und in die puertoricanische Hauptstadt San Juan ausgeflogen.

Für den rechten Flügel der republikanischen Partei war das der endgültige Beweis, daß der Präsident soft on terrorism ist. "In dieser Frage war die Politik der USA immer deutlich", kommentierte Paul Coverdell, Republikaner aus Georgia und Vorsitzender des Senats-Unterausschusses "Auswärtiger Terrorismus": "Keine Zugeständnisse an Terroristen." Und Orin Hatch, Republikaner aus Utah, der dem Rechtsausschuß des Senats vorsitzt, will sogar von geheimen Abhörprotokollen wissen, nach denen die Gefangenen planten, wieder in den bewaffneten Untergrund zu gehen. Beide republikanisch dominierten Ausschüsse werden sich in den nächsten Wochen mit der Begnadigung befassen - freilich, ohne etwas daran ändern zu können: Begnadigungen kann der Präsident auch ohne den Kongreß aussprechen.

Ob er sich damit Freunde macht, steht auf einem anderen Blatt. Eine Gegnerin der Begnadigung hat Clinton sogar im eigenen Haus: Präsidentengattin Hillary Rodham Clinton, die sich nächstes Jahr um einen Senatorinnenposten bewerben will - im Staat New York, wo 200 000 gebürtige Puertoricaner wahlberechtigt sind. Nachdem ihr republikanischer Gegenkandidat, der derzeitige New Yorker Bürgermeister und Law-and-order-Politiker Rudolph Giuliani, eine Medienkampagne losgetreten hatten, die das Gnadenangebot als Wahlgeschenk Herrn Clintons an Frau Clinton angriff, zog die gewiefte Anwältin ihr anfängliches Votum für die Aktion des Gatten schleunigst zurück. Mit ihrem dreiwöchigen Zögern, Clintons Angebot anzunehmen, hätten die Gefangenen gezeigt, daß sie es nicht wirklich ernst meinten mit dem Gewaltverzicht, lautete die nachgeschobene Begründung.

Damit verärgerte die ehrgeizige First Lady jedoch sowohl die 1,3 Millionen hispanischen Wähler in ihrem erhofften Wahlkreis als auch puertoricanisch-stämmige Parteifreunde. "Ich bin enttäuscht, ich bin verärgert", sagte José Serrano, ein aus Puerto Rico stammender Demokrat, der den New Yorker Stadtteil Bronx im Repräsentantenhaus vertritt. "Und offen gestanden, habe ich meine Meinung über Hillary Clinton und ihre Kandidatur geändert, nachdem ich von ihrem Vorgehen und ihren Äußerungen gelesen habe. Ich müßte ein Heuchler sein, wenn das nicht so wäre."

Noch immer haben die 27 Millionen Latinos in den USA mit dem alltäglichen Rassismus zu kämpfen, doch sie sind eine pressure group geworden, gegen deren Interessen kein Politiker mehr ungestraft verstößt. In 50 Jahren, verkünden Latino-Lobbyisten stolz, werde jeder dritte US-Amerikaner einen spanischen Namen haben. Daß das gewachsene Selbstbewußtsein der puertoricanischen Gemeinden in den USA an den Beziehungen zu Puerto Rico etwas zu ändern scheint, ist auch den politischen Gefangenen nicht entgangen. Und auch, daß die vollkommene Unabhängigkeit unter der Inselbevölkerung kaum mehr Anhänger hat, wurde ihnen spätestens vor neun Monaten bekannt, als sich in einer Volksabstimmung lediglich drei Prozent der Wahlberechtigten für diese zentrale Forderung der independistas aussprachen.

Schon lange vor der geforderten Absage an die Gewalt haben die Gefangenen daher aus freien Stücken erklärt, sich in einen zivilen, legalen und demokratischen Prozeß innerhalb ihrer Gemeinden eingliedern zu wollen, um sich gegen den Kolonialstatus der Karibikinsel und für die Verbesserung der Lebensbedingungen der puertoricanischen Einwanderer in den amerikanischen Städten einzusetzen. Damit würden sie lediglich zu ihren Wurzeln zurückkehren: Der Widerstand gegen die miserablen Konditionen, denen Latinos im Alltag der New Yorker und Chicagoer Ghettos ausgesetzt waren, stand am Beginn der politischen Laufbahn der meisten Gefangenen.

Was den legalen Kampf für die puertoricanische Unabhängigkeit angeht, wird der US-Inlandsgeheimdienst FBI - der die Geschicke Insel seit Jahrzehnten mit sogenannten Counterintelligence-Aktivitäten lenkt - dagegen einige Einwände haben. Denn die politischen Aspirationen der Präsidentengattin und der gewachsene politische Einfluß der Hispanos sind nicht der einzige Grund, aus dem die US-Administration zur Zeit eine Normalisierung der Beziehungen zu ihrem puertoricanisch-stämmigen Bevölkerungsteil sucht: Die Karibik-Insel spielt in den strategischen Überlegungen der US-Militärs eine wichtige Rolle. Sie soll schon bald die zur Zeit noch in Panama stationierte Südarmee (Usarso) der US-Truppen beherbergen. Das umfangereiche Truppenkontingent, das hauptsächlich für sogenannte Anti-Terror-Operationen und zur Bekämpfung des Drogenhandels verwendet wird, soll diese Aktivitäten in ganz Lateinamerika künftig noch ausdehnen. Da sind ein paar politische Gefangene ein geringer Preis, wenn sie ein ruhiges Hinterland garantieren.