Mit Mitleid zur Mehrheit

Erstmals seit 1986 scheint eine Weiterführung der Großen Koalition nach den nächsten Wahlen in Österreich fraglich

Plötzlich ist alles anders. Der bis zum vergangenen Dienstag eher lustlos dahindümpelnde österreichische Wahlkampf wurde durch einen Satz des Chef der konservativen Österreichischen Volkspartei (ÖVP), Wolfgang Schüssel, aufgewertet: "Wenn wir auf dem dritten Platz landen, werde ich persönlich die ÖVP in die Opposition führen", meinte der bisher im Wahlkampf eher untergetauchte Parteichef.

Auslöser für die typische Schüssel-Aktion - mit dem politischen Selbstmord zu drohen, um Mitleid zu erregen - war eine Umfrage, die einen Tag zuvor veröffentlicht worden war: Da lag die ÖVP in der Wählergunst hinter der rechtsextremen Freiheitlichen Partei Österreichs (FPÖ) an dritter Stelle, die Sozialdemokraten führten das Parteienranking erwartungsgemäß noch immer an.

Die Erklärung des österreichischen Vizekanzlers hat nun breiten Raum für Spekulationen über künftige Koalitionen eröffnet: Das schon seit 1986 bestehende Regierungsbündnis zwischen Sozialdemokraten und Konservativen scheint erstmals wirklich in Gefahr, eine Zusammenarbeit zwischen ÖVP und FPÖ wird nun möglich. Zumindest rechnerisch können die beiden rechten Parteien die erforderliche absolute Mehrheit im österreichischen Nationalrat erreichen.

Hinter Schüssels Vorschlag, in die Opposition zu gehen, steht die Panik eines ÖVP-Obmannes, der bald zur Geschichte gehören könnte: Wenn die ÖVP tatsächlich auf dem dritten Platz landet und damit endgültig zur mittelgroßen Partei zusammenschrumpft, wird Schüssel das wohl politisch nicht überleben. Auf einem Sonderparteitag könnte der durch sein Liebesgeplänkel mit der FPÖ bekannt gewordene Familienminister Martin Bartenstein zum neuen ÖVP-Obmann gekürt werden.

Dies wäre dann die Grundlage für einen politischen Deal mit den Freiheitlichen: FPÖ-Chef Jörg Haider hätte die Möglichkeit, Bartenstein den Kanzler-Posten im Gegenzug für eine Regierungsbeteiligung anzubieten. Ein Modell, das Österreich vermutlich zu Neuwahlen führen würde, denn Haiders Machtdrang würde den konservativen Regierungspartner bald zermürben.

Aber auch die SPÖ ist in Gefahr: Sie stünde plötzlich ohne Koalitionspartner da. "Ich halte die Äußerungen des ÖVP-Obmannes für sehr unglücklich", sprach denn auch Bundeskanzler und SPÖ-Chef Viktor Klima. Damit hat er aus seiner Perspektive durchaus recht. Bei den vergangenen Wahlen stand eigentlich niemals eine Änderung der rot-schwarzen Dominanz in Aussicht, nun ist es ernst geworden.

Anders als die ÖVP haben die österreichischen Sozialdemokraten nicht allzu viele Optionen für eine Regierungskoalition: Eine Ampelkoalition zwischen Sozialdemokraten, Grünen und Liberalen wird sich vermutlich schon arithmetisch nicht ergeben. Schlichter Grund: Die Liberalen werden, so sehen es die bisherigen Umfragen, an der Vier-Prozent-Hürde scheitern. Mit rund 36 Prozent für die SPÖ und den erwarteten sechs Prozent für die Grünen wird sich das Regieren dann wohl kaum verwirklichen lassen.

Auch vom Newcomer-Bonus des österreichischen Bundeskanzlers Viktor Klima ist wenig übriggeblieben. Als er Anfang 1997 den durchaus erfolgreichen Franz Vranitzky als Kanzler und SPÖ-Chef beerbte, hatte Jörg Haider noch ordentlich mit dem neuen Image der österreichischen Sozialdemokraten zu kämpfen. Viktor Klima verlor seitdem jedoch beinahe alle Landtagswahlen und gilt als angeschlagen.

Durchaus möglich, daß er nach verlorenen Wahlen zurücktritt. Dann könnte es sogar zu einer Konstellation kommen, die bislang bei den Sozialdemokraten tabu war: eine Koalition der SPÖ mit Haiders Freiheitlichen. Nachfolger Klimas in diesem Fall wäre wohl der wegen seiner latenten Ausländerfeindlichkeit profilierte Innenminister Karl Schlögl. Ohne Widersprüche wäre dieser Kurswechsel nicht durchzusetzen: Viele SPÖ-Funktionäre würden diesen Kurs nicht mittragen, die Partei wäre gespalten - eine ideale Situation für Jörg Haider.

Doch der agiert auch jetzt schon recht geschickt: Haider kürte den Industriellen Thomas Prinzhorn zu seinem Spitzenkandidaten und brach dadurch mit dem "radikaloppositionellen" Image der Freiheitlichen. Prinzhorn hat, anders als Haider, unter Österreichs Unternehmern einen guten Ruf. Vor rund einem Jahr schied er im Streit von Haider, nun kehrt er als Spitzenkandidat zurück.

Verlockend für den Papierindustriellen: Er könnte der erste freiheitliche Kanzler Österreichs werden, wenn es zu einer blau-schwarzen Koalition kommt. Allerdings steht diesem Ansinnen vor allem Jörg Haider im Weg. Auch der hat seinen Anspruch, Kanzler zu werden, noch nicht aufgegeben. Ein Duell zwischen Spitzenkandidat und Parteichef ist also nicht ausgeschlossen.

Ex-Kanzler Franz Vranitzky glaubt gar an ein baldiges Zerwürfnis zwischen dem Herrn und seinem Meister: "Er wird das Schicksal vieler erleiden: Kann er einen Erfolg bringen, wird ihn Haider an die Seite drängen. Erleidet er einen Mißerfolg, wird er als nützlicher Prinzhorn fallengelassen", so der Ex-Kanzler.

Auch auf Platz zwei der FPÖ-Liste wurde ein Prominenter plaziert: Der ehemalige Skisportprofi Patrick Ortlieb begründete auf einer Pressekonferenz sein Engagement für Haider damit, daß sein Chef ein "sportlicher Typ, ein Kämpfer" sei. Österreich habe ihm viel gegeben, nun habe er das Bedürfnis, dem Land etwas zurückzugeben.

Diese Nominierungen könnten für die Sozialdemokraten ebenso problematisch sein wie die Kandidatur des Opernball-Schrecks und Baumeisters Richard Lugner. Er hat seine Partei Die Unabhängigen (DU) gegründet und wildert damit mitten im Wählerklientel von Sozialdemokraten und Freiheitlichen. Gerne wirbt er auch mit ausländerfeindlichen Parolen und bedient damit die Ressentiments der enttäuschten Unterschichten. Meinungsforscher geben dem von immerhin zehn Prozent der Österreicher im letzten April gewählten Bundespräsidentschaftskandidaten immerhin die Chance, die Vier-Prozent-Hürde zu nehmen.

Entsprechend radikaler werden auch die Wahlslogans der Freiheitlichen, die sich von Lugner getrieben fühlen: In den letzten Tagen wurden in Wien ungewöhnlich direkte Slogans plakatiert: "Stopp der Überfremdung" ist noch einer der harmloseren.

Hilflos reagierte Viktor Klima und holte sich Wahlhilfe aus Berlin: Bundeskanzler Gerhard Schröder jettete nach Wien, um seinem Genossen Publicity zu verschaffen. Das könnte gelungen sein: Der freiheitliche Pressedienst spöttelte schon am Wochenende über das Treffen der "Verlierer". Denn so wie die deutsche Sozialdemokratie bei den vergangenen Landtagswahlen abschmierte, prophezeien die Freiheitlichen, werde es auch der österreichischen am 3. Oktober ergehen.