Frankensteins Junior

Während der Peronist Eduardo Duhalde mit seinem Widersacher Fernando de la Rua um die Präsidentschaft kämpft, könnte ein mehrfacher Mörder ihn um den Sieg bringen

Bis vor ein paar Jahren waren Wahlkämpfe in Argentinien aufwendig inszenierte Dramen, in denen die Choreographen der großen Parteien aufwendige Massenszenen komponierten und die Statisten nächtens die Häuserwände der Städte mit Graffiti kolorierten. Noch 1989, als die "Hyperinflation" Raul Alfons'ns die Mittelklasse über Nacht um ihre Ersparnisse brachte und überall im Land Supermärkte und Lebensmitteldepots gestürmt wurden, zog der Kandidat Carlos Menem mit weißem Poncho und farblich abgestimmtem Gaul übers Land und würzte seine Brandreden mit millennaristischer Folklore.

Zehn Jahre und zwei Präsidentschaften des einstigen Provinz-Caudillos später spielt sich der Wahlkampf bevorzugt im Fernsehen ab. Statt Graffiti zu sprühen, kleben die Parteibataillone Plakate, bis der komplette Werbedreck sich unter dem Gewicht von Papier und Kleister von den Wänden rollt.

Die hitzigen Debatten in den Cafés von Buenos Aires sind kaum von den neuesten Umfragen geprägt: Ob am 24. Oktober der Peronist Eduardo Duhalde oder sein bürgerlicher Widersacher Fernando de la Rua Argentiniens nächster Präsident wird, wird eher resigniert und nebenbei erörtert.

Tatsächlich unterscheiden sich die Programme beider Bewerber nur in Nuancen, und die Wirtschaftsexperten der großen Parteien überbieten sich mit Ex-Wirtschaftsminister Domingo Cavallo - in den Umfragen auf Platz drei - in Treuebezeugungen zur IWF-Strukturpolitik und zur Koppelung der Landeswährung an den Dollar. Nur einer, der sich gar nicht um das höchste Staatsamt bewirbt, bringt ständig neue und forsche Sprüche: der Ex-Kommissar, mehrfache Mörder und Folterer Luis Patti, dem bei den parallel stattfindenden Gouverneurswahlen in der Schlüsselprovinz Buenos Aires über 15 Prozent der Stimmen vorhergesagt werden.

Die Karriere Pattis zeigt die Kontinuität einer mafiösen und autoritären Tradition in den Staatsinstitutionen auf, die lange vor dem Putsch von 1976 ihren Anfang nahm und mit dem Ende der Diktatur 1983 nicht überwunden ist: In den frühen Siebzigern wurde der gerade erst in den Polizeidienst eingetretene Patti von einer Zeitung der Folterung und Ermordung von Gefangenen bezichtigt; der verantwortliche Redakteur "verschwand" nach 1976. Patti alias "El Loco" wurde im Bericht der Kommission zur Aufklärung der Menschenrechtsverbrechen nach 1983 als verantwortlicher Offizier der Brigade Tigre im Norden von Buenos Aires genannt, die für die Mißhandlung und Ermordung von Schülern verantwortlich gemacht wird.

Aber ein Gerichtsverfahren gegen Patti wegen des Mordes an einem Führungskader der linksperonistischen Montoneros mußte 1983 "wegen Mangels an Beweisen" eingestellt werden. El Loco wurde auf Empfehlung des damaligen Gouverneurs Cafiero in die feudalen nördlichen Vororte der Hauptstadt versetzt, wo er 1990 allerdings schon das nächste Verfahren wegen Folterung von Häftlingen am Hals hatte.

Auf Druck von Präsident Menem und von Cafieros Nachfolger Duhalde und nach der Versetzung des zuständigen Richters, wurden die Ermittlungen auf Eis gelegt, und der Ex-Polizist wechselte - ermutigt von Menem und Duhalde - in die Politik: 1995 ließ sich Patti zum Bürgermeister des Distrikts wählen, in dem er schon über zwanzig Jahre aktiv war.

Vier Jahre später versucht er es nun auf eigene Faust. Der Erfolg von Pattis unabhängiger Liste könnte vor allem auf Kosten derjenigen gehen, die ihn seit Jahren protegiert und in die Politik geholt haben. Bei den Getreuen Duhaldes wird offen darüber spekuliert, ob Pattis Kandidatur in Wahrheit ein Störmanöver Menems darstellt, der allzu gerne selbst ein drittes Mal für die Präsidentschaft kandidiert hätte: "Patti ist Frankensteins Kreatur", formulierte es ein Vertrauter Duhaldes, als hätte sein Chef nicht tatkräftig an dessen Inkubation mitgewirkt.

Denn seit die Opposition im vergangenen Jahr mit Unterstützung Duhaldes eine weitere Kandidatur Menems verhindert hatte, läßt sich der keine Gelegenheit entgehen, um seinen parteiinternen Intimfeind zu ärgern und sich, sollte Duhalde die Wahlen verlieren, selbst als Oppositionsführer und Kandidat für das Jahr 2003 zu empfehlen. Denn würde Duhalde ausgerechnet in seiner eigenen Provinz geschlagen, in der ein Drittel aller Stimmberechtigten ansässig ist, könnte er sich seine präsidialen Ambitionen wohl abschminken.

Doch jenseits der peronistischen Hahnenkämpfe hat Duhalde ein hausgemachtes Problem in seiner Provinz, traditioneller Brennpunkt der sozialen Probleme Argentiniens. Duhaldes Amtszeit als Gouverneur ist überschattet von einem der größten Skandale der letzten Jahre, der Verwicklung hoher Polizeifunktionäre in die Ermordung des Journalisten José Luis Cabezas und in die Anschläge auf die israelische Botschaft und das jüdische Gemeindezentrum der Hauptstadt.

Dabei wurde zugleich die systematische Verstrickung der "Polic'a Bonaerense" in Drogen-, Waffenhandel und Hehlerei deutlich, und Duhalde sah sich gezwungen, im Einvernehmen mit der Opposition dem ehemaligen Verfassungsrichter Le-n Arslani‡n Vollmachten für eine ehrgeizige Polizeireform zu übertragen. Doch die anhaltend hohen Verbrechenszahlen und das Vordringen Pattis in traditionelle peronistische Stimmenreservoirs haben Duhalde zuletzt zu einer neuerlichen 180-Grad-Wende veranlaßt. Der peronistische Gouverneurskandidat, Vizepräsident Carlos Ruckauf, versuchte, Patti rechts zu überholen, indem er Arslani‡n kritisierte und die Polizei aufrief, "den Dieben endlich die Kugel zu geben".

Um die Ruhe wiederherzustellen, wechselte Duhalde seinen Sicherheitsminister gegen einen Provinzrichter mit besten Verbindungen zur alten Polizeiführung aus und besetzte die Spitzenfunktionen der Behörde erneut mit alten Parteigängern. Doch so fraglich es ist, ob die Rückkehr der "Maldita Polic'a" - zusammen mit der Aufnahme rechtsextremer Figuren wie des Ex-Putschisten Aldo Rico auf die peronistische Wahlplattform - dem Patti-Effekt etwas entgegensetzen kann, so sicher dürfte sie Duhalde um die Stimmen der bürgerlichen Mitte bringen.

Und die stößt ins gleiche Horn: In einem der Wahlspots des Oppositionsbündnisses Alianza ist deren Kandidat Fernando de la Rua, ein farbloser Apparatschik vom rechten Flügel der in Europa gern als "sozialdemokratisch" mißverstandenen Radikalen Partei (UCR) und Bürgermeister des Hauptstadtdistrikts, zu sehen - flankiert von Spezialtruppen in Kampfuniform. De la Rua gefällt sich in der Rolle des bürgerlichen Saubermanns und Korruptionsbekämpfers, ein Konzept, das bei weiten Teilen des Establishments angesichts der Auflösungserscheinungen der Menemschen Politparty auf Zuspruch stößt.

Ähnlich wie Brasiliens Präsident Henrique Cardoso gibt de la Rua die konstitutionalistisch-seriöse Variante des neoliberalen Konversionsprojekts, nachdem der Kredit der messianischen Hallodris vom Schlage Menems offenbar verspielt ist. Angesichts der derzeitigen Rezession vermittelt de la Ruas Administration der Hauptstadt der wahlentscheidenden Mittelklasse einen Eindruck von Solidität und Verläßlichkeit: mit ein paar Kulturspektakeln, dem Verbot der Prostitution, mit mehr Polizei auf den Straßen und dem Einzäunen der öffentlichen Räume.

Nachdem die UCR noch 1995 nur dritte Kraft bei den Präsidentschaftswahlen geworden war und kurz vor der Auflösung stand, ist es de la Rua mit Beharrlichkeit und Beziehungen gelungen, das Mitte-Links-Bündnis Frepaso in eine Wahlallianz unter radikaler Hegemonie einzuspannen. Die ehemals "linke" Hoffnungsträgerin Graciela Fern‡ndez Mejide kandidiert nach ihrer Niederlage gegen de la Rua bei den internen Vorwahlen der Allianz nur noch um das Gouverneursamt in Buenos Aires, und in den meisten Provinzen führen Kandidaten der UCR die gemeinsamen Listen an.

Angesichts der Neutralisierung der Linken finden in Argentinien nun erstmals freie Wahlen ohne eine auch nur nominelle Alternative zur marktliberalen Orthodoxie statt. Sollte de la Rua im Oktober erwartungsgemäß gewinnen, dürfte die bürgerliche Presse das wohl als Abschluß und Bestätigung des Übergangs zu einer demokratischen Gesellschaft feiern. Damit wäre der späte Triumph der Diktatur komplett.