»Unkontrollierte Kettenreaktion«

Der Harakiri-Faktor

Die Rangliste der schönsten Atom-Unfälle auf der Welt wurde vergangene Woche kräftig durcheinander gewirbelt. Der neue Senkrechtstarter Tokaimura hat sich - mit einer Gesamtnote Vier - die Bronzemedaille verdient, hinter dem bislang unangefochtenen Spitzenreiter Tschernobyl (Gesamtnote Sieben) und dem ewigen Zweiten, Three Mile Island (Note Fünf). Dumm für die japanische Regierung. Hatte sie doch erst im März einen Bericht über die einheimischen AKW veröffentlicht, in dem sie sich zu deren Sicherheit beglückwünschte. Die sei "extrem hoch" und basiere auf "internationalen Standards". Wie wahr.

Mit einem blauen Flämmchen begann das Desaster in der Fabrik in Tokaimura. Es zeigte den Beginn einer rund 15 Stunden währenden unkontrollierten Kettenreaktion an. Mindestens 55 Personen wurden gefährlichen Strahlungsdosen ausgesetzt, darunter Sanitäter, die gerufen wurden, um drei lebensgefährlich verstrahlte Arbeiter wegen "Übelkeit" zu behandeln. Im Umkreis von 350 Metern rund um die Nuklear-Anlage wurden die 150 Anwohner evakuiert. Die Behörden forderten zunächst 34 000 Personen im näheren Umkreis auf, in ihren Wohnungen zu bleiben. Der Ratschlag wurde später auf 310 000 Personen im Radius von zehn Kilometern um die Anlage ausgeweitet. Da ließ sich schon nicht mehr verschweigen, dass ein doch eher gravierender "Unfall" passiert war.

Dann folgte die mühsame Suche nach der "Wahrheit". Die japanischen Behörden begannen am Wochenende, Büros der Betreiberfirma JCO auf belastende Dokumente zu filzen. Die hatte die eh schon laxen, staatlich vorgeschriebenen Sicherheitsvorkehrungen noch locker unterboten. Und ins Zentrum des Spektakels rückte die brennende Frage: Haben dämliche Arbeiter mal wieder alles versaut, also einen "einfachen Fehler" (Regierungssprecher Hiromo Nonaka) gemacht, oder kam das Tukaimura-Desaster zu Stande, weil die Betreiber-Firma die Sicherheitsbestimmungen verletzt hat?

Da konnte der jüngste Erfolg der weltweit vernetzten Nuklear-Industrie ruhig in den Hintergrund treten. Vergangene Woche wurde nämlich ein Pilot-Unternehmen der besonderen Art erfolgreich beendet - der Plutonium-Kreislauf zwischen Euroland und Japan ist geschlossen. Es ist nun wissenschaftlich erwiesen, dass zwei Schiffe mit plutoniumhaltigen Brennelementen und 30-Millimeter-Bordkanonen die lange Wegstrecke nach Japan zurücklegen können, ohne abzusaufen oder von Piraten gekapert zu werden. Nun können weitere Transporte folgen, damit Japan noch mehr Plutonium erhält, um zur potenziellen Atommacht aufzusteigen.

Unter anderem stammen die nach Japan versandten Brennelemente aus dem Atomkomplex in Sellafield, das vor dem verheerenden Nuklear-"Unfall" in den fünfziger Jahren noch Windscale hieß. Und der Betreiber der Brennstoff-Fabrik, BNFL, musste kürzlich kleinlaut eingestehen, dass bei der Produktion der Brennstoffelemente wichtige Sicherheitsdaten einfach gefälscht worden waren.

Dass die Liste der nuklearen Desaster immer länger wird, muss nicht unbedingt dazu führen, dass die "Experten" sie auch wahrnehmen. In einem Akt intellektuellen Harakiris überreichten 570 deutsche Professoren vergangene Woche der Bundesregierung ein Memorandum gegen den Ausstieg aus der Atomenergie. Sie outeten sich damit als die treuen Samurai der Atomkonzerne. Der Sicherheitsaspekt könne heute "nicht mehr" als Argument für einen Ausstieg angeführt werden, hieß es in dem Memorandum beispielsweise. Der Stuttgarter Professor für Energiewirtschaft Alfred Voß erklärte unverfroren, die Risiken der Atomenergie seien mit denen der Windkraft vergleichbar. Im Übrigen liege Deutschland bei der Entwicklung von Sicherheitsstandards im internationalen Vergleich an der Spitze. Sogar noch vor Japan also.