Keine Gnade für den Feind

Die kurdischen Gefangenen beteiligten sich nicht an den Knastrevolten. Nun werfen die linken Häftlinge der PKK "Verrat" und "Kapitulation" vor.

Elf Menschenleben forderte die "Gefängnisrevolte" in der Türkei vergangene Woche. Es dauerte mehrere Tage, um Altbekanntes festzustellen: Die Häftlinge, die verschiedenen linken Gruppen angehörten, wurden durch Kopfverletzungen und Schussverletzungen aus nächster Nähe getötet. Dutzende wurden schwer verletzt. Der Staat müsse seine Autorität durchsetzen, "koste es, was es wolle", hatte Ministerpräsident Bülent Ecevit kurz vor dem Sturm auf die Haftanstalt Ulucer in Ankara erklärt.

"Was in Ankaras Zentralgefängnis geschah, war ein Massaker", sagte der Sprecher einer türkischen Menschenrechtsorganisation am Wochenende. Denn nicht nur die Ereignisse in Ulucer selbst, auch das weitere Vorgehen erinnert an frühere staatlich gedeckte Hinrichtungen: Die Behörden versuchten zunächst, die Leichen nicht an die Angehörigen zu übergeben und die Anwälte von der Autopsie fernzuhalten. Erst nach vehementem Druck durch die Angehörigen und nach öffentlichen Protesten gestatteten die Behörden die Entnahme von Gewebeproben der drei durch Schussverletzungen umgekommenen Häftlinge.

Die Untersuchung soll nun feststellen, ob die Gefangenen aus nächster Nähe erschossen worden sind. Mithäftlinge hatten berichtet, dass die Getöteten von Spezialeinheiten zuerst bewusstlos geschlagen und dann erschossen worden seien.

Die Wärter behaupten hingegen, die Gefangenen hätten über Schusswaffen verfügt und versucht, einen Tunnel zu graben. Erst deren Gebrauch habe das Blutbad verursacht. Doch nirgendwo wurden Spuren eines Tunnels gefunden; eindeutiger sind hingegen die Indizien bei den Häftlingen: Sie wurden durch gezielte Schüsse im Kopf und Brustbereich getötet - ein deutlicher Hinweis auf die Tötungsmethoden der türkischen Kontraguerilla.

Zu dem Aufstand kam es, als linksradikale Gefangene aus Ulucer in andere Anstalten verlegt werden sollten. Die Knäste in der Türkei gelten zumeist als veraltet und überbelegt. Die Haftbedingungen sind zwar schlecht, die politischen Gefangenen werden häufig in großen Schlafsälen untergebracht. Dort können sie sich jedoch weitgehend selbst organisieren und über Mobiltelefone auch Kontakt nach außen halten. In den moderneren Gefängnissen mit Einzelzellen ist dies nicht mehr möglich.

Als die Wärter vor der Verlegung eine Leibesvisitation vornehmen wollten, wurden sie von bewaffneten Häftlingen angegriffen. Nachdem die gewaltsame Aktion der Polizei in Ankara bekannt wurde, schlossen sich Häftlinge in anderen Anstalten dem Aufstand an und nahmen landesweit insgesamt 93 Wärter als Geiseln.

Am vergangenen Freitagabend wurden dann die letzten verbliebenen 17 Wärter aus dem Istanbuler Gefängnis Bayrampasa freigelassen. Zuvor hatten Gefangene unter dem Einsatz neutraler Vermittler mit Regierungsvertretern ausgehandelt, dass die an der Erstürmung des Ulucer-Gefängnis beteiligten Beamten sich vor Gericht verantworten müssen.

Jeder weiß, dass diese Einigung eine reine Formalität ist. Der ganze Vorfall gleicht den Razzien in den Haftanstalten von Diyarbakir und Ümraniye vor drei Jahren, die international als Akt der Barbarei verurteilt wurden. Spezialeinheiten stürmten damals in Diyarbakir die Zellen von PKK-Häftlingen und erschlugen einige der Insassen mit Eisenstangen. In Ümraniye wurden bei Razzien zwei linke Häftlinge umgebracht. Elf weitere Todesopfer forderte dann noch der 69 Tage andauernde landesweite Hungerstreik der politischen Gefangenen.

Von den 59 Beamten, die wegen des "Massakers in Diyarbakir" 1996 mit Haftstrafen von bis zu zehn Jahren angeklagt wurden, haben immer noch nicht alle Angeklagten sich überhaupt dazu bequemt, eine Aussage zu machen. Der Prozess schleppt sich hin und wird wohl mit Freisprüchen aus Mangel an Beweisen enden.

In einer Hinsicht unterscheidet sich der Gefängnisaufstand von vergangener Woche jedoch von den Revolten der letzten Jahren. Die rund 10 000 der PKK nahestehenden kurdischen Häftlinge beteiligten sich demonstrativ nicht an der Meuterei. Viele radikale Linke sind darüber erbost und beschuldigen die PKK, dem "revolutionären Widerstand ihre aussichtslose Selbstaufgabe" aufzwingen zu wollen.

Denn fast zeitgleich mit dem Gefängnisaufstand hatte sich am vergangenen Freitag eine bewaffnete PKK-Gruppe, darunter der ehemalige Europa-Verantwortliche der PKK, Ali Sapan, mit weißen Fahnen und einer Friedensbotschaft an der Grenze zu Irak türkischen Soldaten ergeben. Die Guerilla hatte sich zuvor auf Befehl des auf der Gefängnisinsel Imrali auf sein Revisionsurteil wartenden PKK-Chef Abdullah Öcalan seit dem ersten September fast vollständig aus der Türkei zurückgezogen. In einer Erklärung des Präsidialrates der PKK hieß es dazu, der Friedensaufruf der PKK sei nicht als Kapitulation, sondern als passiver Widerstand anzusehen.

Der Generalstab und der Staatspräsident wiesen am nächsten Tag die Kapitulation zurück. Dies sei nur eine Taktik von Abdullah Öcalan, um die Türkei zu Verhandlungen mit den Rebellen zu zwingen, erklärten sie. Es sei völlig ausgeschlossen, die PKK-Gruppe als Friedensboten zu akzeptieren. In der vergangenen Woche marschierten entsprechend 5 000 Soldaten in den Nordirak ein, um dort PKK-Camps aufzustöbern.

Im Sprachrohr der Linksradikalen, der Zeitung Politika'da Atylym, wurde Ende vergangener Woche erstmalig der Friedensaufruf

der PKK verurteilt. Die Zeitung kritisierte, dass die Organisation hilflos die weiße Fahne schwenken und eine bedingungslose Kapitulation vollziehen würde. Der völlige Gewaltverzicht der PKK wird von der Linken in einer Situation, in der ihre Genossen im Gefängnis sterben, als Verrat gesehen.

Durch die demonstrative Abkehr der PKK-Häftlinge von den Protestaktionen in den Gefängnissen zeichnet sich nun eine Spaltung zwischen den Gruppierungen ab, die nach der Festnahme Abdullah Öcalans noch gemeinsame Aktionen geplant hatten.

Die PKK wird dadurch weiter geschwächt, zumal die verschiedenen Friedensangebote von PKK-Chef Abdullah Öcalan wirkungslos bleiben. In Ankara ist man offensichtlich in keiner Weise an irgendeinem Dialog mit der PKK oder anderen über die Kurden-Frage interessiert, sondern hofft, mit der Verurteilung Öcalans gleich alle weitere Probleme miterledigen zu können.

Selbst seine Anwälte rechnen mit der Bestätigung des Todesurteils durch die höchste türkische Gerichtsinstanz am kommenden Donnerstag. Das Gericht in Ankara werde sich vermutlich gegen die Wiederaufnahme des Verfahrens aussprechen, sagte ein Verteidiger Öcalans in einem dpa-Gespräch. Eine Hinrichtung des PKK-Chefs binnen der nächsten drei Jahre sei dennoch unwahrscheinlich.