Lionel im Glück

Liberal in der Wirtschaft, sozial in der Rhetorik: Frankreichs Premier Lionel Jospin geht erfolgreich in seine zweite Halbzeit.

Mit solchen Lobgesängen hatte er zu Beginn seiner Amtszeit wohl selbst kaum gerechnet. Zweieinhalb Jahre nach seiner Wahl ist Frankreichs Premierminister Lionel Jospin Umfragen zufolge der beliebteste Politiker der Fünften Republik. Den Erfolg verdankt er vor allem seiner Wirtschaftspolitik: Innerhalb von zwei Jahren sind in Frankreich über eine halbe Million neuer Jobs geschaffen worden. Und während in Deutschland und Italien die Konjunktur stagniert, zählt das Wirtschaftswachstum in Frankreich mit vier Prozent zu den höchsten in Europa. Mit einem ganzen Bündel neuer sozialer Maßnahmen will er nun die "zweite Etappe" seiner insgesamt fünfjährigen Amtszeit einleiten. So sollen Massenentlassungen bestraft und ungesicherte Beschäftigungsverhältnisse erschwert werden.

In Europa gilt Jospin wegen solcher Beschlüsse als linker Gegenspieler zu neoliberalen Sozialdemokraten wie Tony Blair und Gerhard Schröder. In Frankreich wird Jospin jedoch von seinem Koalitionspartner, den Kommunisten, heftig attackiert - wegen seiner angeblich zu liberalen Wirtschaftspolitik.

Anlass für den aktuellen Krach in der Regierung lieferte vergangene Woche der Reifenhersteller Michelin. Das Unternehmen hatte stolz eine Gewinnsteigerung von 20 Prozent verkündet und gleichzeitig die Entlassung von 7 500 Mitarbeiter angemeldet. Jospin zeigte sich zwar von dem "unglaublichen Zynismus" (Libération) betroffen, erklärte aber, im besten wirtschaftsliberalen Stil, der Staat sei in diesem Fall leider "ohnmächtig" und könne "die Wirtschaft nicht verwalten".

Die Kommunisten beschuldigten ihn daraufhin, eine "liberale Wende" zu vollziehen. Jospin lasse der Diktatur der Finanzmärkte freien Lauf, wetterte KP-Chef Robert Hue vergangene Woche im Parteiblatt L'Humanité. Die von Finanzminister Dominique Strauss-Kahn beschworene "sozialistische Modernität" sei nichts als "Kapitalismus und Vorwärtsflucht".

Dem sozialistischen Premier kommt der Konflikt um Michelin äußerst ungelegen, präsentiert er sich doch stets als Befürworter einer sozial ausgewogenen Politik. Im Gegensatz zu seinen sozialdemokratischen Kollegen in Deutschland und Großbritannien hält er erfolgreich an einer staatlich gelenkten Nachfragepolitik fest. Der Aufschwung ist jedoch nur zum Teil durch Jospins Wirtschaftspolitik zu erklären. Entscheidend ist vielmehr, dass sich mit Beginn seiner Amtszeit die strukturellen Voraussetzungen für die französische Wirtschaft wesentlich verbessert haben.

Noch bis Mitte der neunziger Jahren wurden die französische Binnennachfrage durch die sogenannte Politik des franc fort, des "starken Franc", blockiert - eine Bezeichnung, die nicht zufällig an Francfort, den Sitz der Deutschen Bundesbank, erinnert. Denn um die Kosten der Wiedervereinigung zu finanzieren, hatte die Bundesbank die Zinsen in die Höhe getrieben. Deutschland sollte dadurch für internationale Kapitalanlagen attraktiver werden. Die Zinspolitik der Bundesbank blieb nicht ohne Folgen: Die wirtschaftlich schwächeren EU-Staaten mussten die Währungspolitik der Bundesbank gezwungenermaßen mittragen - sie waren über das Europäischen Währungssystem (EWS) an die D-Mark gekoppelt. In der Folge verteuerten die hohen Leitzinsen die Bankkredite für die Industrie wie für die privaten Konsumenten. Ende 1992 befanden sich die meisten EU-Länder in einer tiefen Rezession.

Die Ära des franc fort ist längst passé. Ab 1996/97 sanken die Zinsen wieder, da die Hochzinspolitik der Bundesbank auch die deutsche Wirtschaft belastete. Zudem werden seit der Einführung des Euro die Leitzinsen in Westeuropa von der Europäischen Zentralbank (EZB) festgelegt. Auch wenn sich die EZB strukturell an der Deutschen Bundesbank orientiert, ist die Zeit der Hochzinspolitik damit vorläufig vorbei. Sowohl in den USA wie in der Euro-Zone ist man derzeit bestrebt, die Konjunktur nicht durch eine zu rigide Währungspolitik zu gefährden.

Die französische Ökonomie profitiert von dieser Entwicklung. Dies gilt vor allem für den Binnenkonsum: Seit die Zinsen gesunken sind, holen die Franzosen nach, was sie sich in den letzten Jahren verkniffen hatten. So verzeichnet der Auto-Handel seit fast zwei Jahren ununterbrochene Zuwachsraten. Während in Deutschland oder Italien die Exportindustrie wegen der Asienkrise hohe Umsatzeinbußen zu beklagen hatte, lief zur gleichen Zeit in Frankreich die Konjunktur wegen der großen Binnennachfrage auf Hochtouren. Der anschließende Wirtschaftsaufschwung sorgte hier auch für eine leichte Entspannung auf dem Arbeitsmarkt.

Die Jospin-Regierung kann also zunächst herzlich wenig für die Verbesserung der Arbeitslosen- und Konjunkturdaten. Allerdings hat sie für innen- und sozialpolitische Stabilität gesorgt, die unter ihrem konservativen Vorgänger Alain Juppé durch politische Proteste, wie etwa die Streiks im Öffentlichen Dienst oder den Ausstand der Lkw-Fahrer, stark beeinträchtigt wurde.

Zwar trat auch Juppé 1995 mit großzügigen sozialen Versprechungen an, schwenkte kurz darauf aber auf einen harten Sparkurs ein, den er - ähnlich wie Bundeskanzler Gerhard Schröder derzeit in Deutschland - trotz der heftigen Proteste beibehielt. Jospin verlangte hingegen nach seinem Amtsantritt keine neuen Opfer, sondern versprach soziale Wohltaten wie z.B. die 35-Stunden-Woche. Er setzte in der Wirtschafts- und Sozialpolitik nicht auf Konfrontation, sondern auf die Einbindung von sozialen Bewegungen, Gewerkschaften und Unternehmern, die eine neue - wenn auch zerbrechliche - soziale Konsensfähigkeit herstellen sollen.

Das hinderte Jospin allerdings nicht daran, die als notwendig erachteten marktwirtschaftlichen "Reformen" durchzusetzen. So hatte Jospin bereits im Juni 1997 in der Financial Times die geplante Teilprivatisierung der France Télécom angekündigt - entgegen seinem Wahlversprechen, das zu diesem Zeitpunkt gerade mal einen Monat alt war. Dennoch verzichtet der Premier weitgehend auf eine offene neoliberale Rhetorik und distanzierte sich beispielsweise vehement von dem "Dritten Weg" des Schröder-Blair-Papiers - nicht zuletzt deshalb, weil Jospin Rücksicht auf den kommunistischen Koalitionspartner und die Gewerkschaften nehmen muss. Damit konnte er bisher ohne große soziale Konflikte seine Politik umsetzen und ist zudem wesentlich erfolgreicher als sein Intimfeind Gerhard Schröder. In Paris geht es zwar - wie im aktuellen Konflikt um Michelin - um die selben Probleme wie in Berlin. Nur werden diese an der Seine stärker in eine sozial orientierte Rhetorik verpackt.