Neue Verfassung, neues Glück

Mit einer neuen Verfassung und viel Populismus sucht Venezuelas Präsident Hugo Chávez Rückhalt bei der Bevölkerung.

Nun geht er sogar in Europa auf Werbetour: Der venezolanische Präsident Hugo Chávez ließ in der vergangenen Woche auch Berlin nicht aus, um Unterstützung für sein Modell der "friedlichen Revolution" zu gewinnen. Denn der im November 1998 mit großer Mehrheit gewählte Oberstleutnant hat zur Zeit viel Rückendeckung nötig. Von seinen weitreichenden Wahlversprechen sind bislang in Venezuela nur wenige umgesetzt worden.

Chávez ist mit dem Ziel angetreten, die Korruption in dem lateinamerikanischen Land zu beenden und die Armen an den Gewinnen der Ölindustrie zu beteiligen. Als Grundlage für sein großes Reformprojekt soll eine neue Verfassung für Venezuela dienen. Seit Juli tagt dazu die Verfassunggebende Versammlung (ANC - Asamblea Nacional de Constitucion). Doch die neue Institution, die zu 90 Prozent aus Anhängern von Chávez' Patriotischem Pol (P-lo Patri-tico) besteht, hat sich vor allem zu einer Konkurrenz-Institution zum Parlament entwickelt, in dem der Patriotische Pol nur über 30 Prozent der Stimmen verfügt.

Gleich nach seiner Gründung erklärte die ANC einen institutionellen Notstand und stellte alle Organe des Staates zur Reorganisation unter ihre Kontrolle - einschließlich des Parlaments. In der Folge sollten immer mehr Kompetenzen vom Kongress an den ANC übergehen. Ende August wurden die Sitzungen des Parlaments ganz suspendiert. Erst durch die Vermittlung der katholischen Kirche konnte der Konflikt zwischen den beiden Institutionen vorerst beendet werden. Der Kompromiss sieht ihre Koexistenz bis zur Verkündung der neuen Verfassung in der ANC noch in diesem Monat vor.

Wenn dann auch noch die Verfassung durch ein Referendum bestätigt worden ist, so schlägt Chávez vor, sollen alle Staatsorgane, einschließlich des Kongresses und des Präsidentenamtes, im Dezember neu gewählt werden. Für Chávez geht es aber nicht nur um die Begrenzung der Macht des Kongresses, sondern auch andere Staatsorgane werden angegangen. So wurden in den vergangenen Monaten gegen mehrere Richter des Landes Verfahren unter dem Vorwurf der Korruption eingeleitet. In dem von Ch‡vez als "friedliche Revolution" bezeichneten Umbau des Staates ist auch die Neugründung eines von der Bevölkerung gewählten Obersten Gerichtshofes vorgesehen. Zudem gibt es regelmäßige Initiativen des ANC, die Macht und Befugnisse der Gouverneure der Bundesstaaten zu begrenzen.

Chávez' Kritiker befürchten, der gescheiterte Putschist von 1992 könnte sich mit seiner Verfassungsänderung den Weg in die Diktatur ebnen. Außerdem beschuldigt man ihn des antipartidismo, der Ablehnung des Parteiensystems, und verweist darauf, daß die Bewegung Fünfte Republik, die Partei von Chávez, keinen Parteiencharakter habe, sondern eher einen losen Zusammenschluss von Bewegungen darstelle.

Der von Chávez präsentierte Verfassungsentwurf legt tatsächlich wenig Gewicht auf eine Parteiendemokratie und erleichtert Referenden. Künftig sollen die Wähler auf allen Ebenen die Abwahl von Mandatsträgern - auch des Präsidenten - beantragen können. Gegenstand eines Referendums könnten auch internationale Verträge und Dekrete des Präsidenten sein.

In der Neuen Republik, so will es Chávez, soll ein Gleichgewicht zwischen Markt und Staat, zwischen nationalen und internationalen Interessen hergestellt werden, um die "nationale Autonomie" zu stärken. Alle Abkommen, welche die Souveränität des Staates beschneiden, seien null und nichtig. Gegen einen "wilden Neoliberalismus" wird in den offiziellen Erklärungen stets soziale Gleichheit und Gerechtigkeit gesetzt. In der neuen Verfassung werden daher eine Reihe von sozialen Rechten festgeschrieben: Bildungs- und Gesundheitseinrichtungen sollen gratis zur Verfügung stehen. Jedem Bürger wird das Recht auf Wohnung und Lohnarbeit zugestanden. Auch soll langfristig allen Bürgern der Zugang zu Land gewährt werden.

In dem stark nationalistischen Duktus der Verfassung geht das Recht auf Arbeit mit der Verpflichtung aller Arbeitsfähigen zur Arbeit einher. Und der Venezolaner erhält noch weitere Pflichten: "... das Vaterland, seine Symbole und Werte zu verteidigen und die Interessen des venezolanischen Staates zu schützen". Nationale Solidarität wird gesetzlich vorgeschrieben - mit dem Ziel, "die moralische Entwicklung der Nation" zu fördern.

Neben den Verfassungsänderungen sind auch ökonomische Reformen geplant, um das Haushaltsdefizit in Höhe von neun Milliarden US-Dollar, die enorme Auslandsverschuldung und die Armut großer Teile der Bevölkerung abzubauen. So sollen vor allem die Inflationsrate und Arbeitslosenquote, die derzeit nach offiziellen Angaben bei 20 Prozent liegt, gesenkt werden. Eine Erhöhung des Mindestlohns um 20 Prozent, die durch Kreditbesteuerung finanziert wird, soll den Markt beleben. Allgemein ist eine Stimulierung der Ökonomie durch Staatsausgaben geplant.

Chávez' bisherige wirtschaftspolitische Maßnahmen beschränken sich auf eine Mischung aus Haushaltsausgleich, Kreditförderung und populistischen Massenveranstaltungen. Den Anfang machte der Präsident, der seiner Bevölkerung in seiner wöchentlichen Radiosendung gelegentlich auch Volkslieder vorsingt, mit einer Kampagne des Militärs. Im Februar wurden 70 000 Soldaten in Zusammenarbeit mit Arbeitslosen zu Infrastrukturarbeiten über das Land geschickt, um neue Schulen, Krankenhäuser, Brücken und Märkte zu bauen. Die Süddeutsche Zeitung vermutet bei dem Einsatz von Soldaten in sozialen Projekten einen nützlichen Nebeneffekt: So könnten die großen Summen erklärt werden, die Ch‡vez den Streitkräften aus den Öleinnahmen des Landes zugeschoben hat.

Einen Erfolg haben die populistischen Maßnahmen von Chávez jedoch noch nicht gezeigt. Das Bruttoinlandsprodukt schrumpfte in den ersten vier Monaten des Jahres um 9,8 Prozent. In einer Umfrage gaben 63 Prozent aller Unternehmer an, sie würden auf politische Klarheit warten, bevor sie neue Investitionen tätigen.

Denn immer noch unklar bleibt die Rolle des Militärs. Zur Einbindung der Streitkräfte in das neue politische System ist für sie in der Verfassung eine beratende politische Funktion vorgesehen. Somit setzt sich eine Tendenz fort, die seit dem Amtsantritt von Chávez zu beobachten ist: Die Armee ist die einzige alte Institution, die bisher von der Reform-Wut des Präsidenten verschont blieb.