Abteilung Wut & Trauer

Mit seinem Kosovo-Tagebuch will Rudolf Scharping sich selbst und allen anderen beweisen, dass er alles richtig gemacht hat.

Werden die persönlichen Erfahrungen und Emotionen hoch gestellter Persönlichkeiten der Öffentlichkeit zugänglich gemacht, erhofft sich diese Neuigkeiten vom Rande des Abgrunds. Das in Teilen bereits zugängliche Buch von Oskar Lafontaine ist nicht deshalb interessant, weil der Autor angesichts der Politik der rot-grünen Koalition mit "großer Sorge" erfüllt ist, sondern weil dort Intimität preisgegeben wird, etwa so: "Am späten Abend klingelte das Telefon, und Doris Schröder-Köpf war am Apparat. Sie fragte mich, was los sei. Ihr Mann sei bereits übel gelaunt zu Bett gegangen. Ich erzählte ihr von dem Streit und meiner Absicht, gar nicht erst in die Regierung einzutreten. Dann überließ ich Christa den Hörer. Die Frauen redeten lange miteinander. Gerhard Schröder wurde aus dem Bett geholt und murmelte mir gegenüber eine Entschuldigung." Aha, dort oben geht's zu wie bei uns unten im Mietshaus, wird sich der Leser denken und gespannt weiterlesen.

Auch Rudolf Scharping hat jetzt seine Erinnerungen veröffentlicht. Der Verteidigungsminister blickt auf die Wochen des Kosovo-Krieges zurück, die PR-Kampagne zum Buch legt großen Wert auf die Feststellung, es gehe um "persönliche Aufzeichnungen" mit Tagebuch-Qualitäten. So blickt der Verteidigungsminister im Tagebuch auf einen Tag zurück: "Der Tag war eigentlich normal verlaufen: Sitzungen im Verteidigungs- und Auswärtigen Ausschuss, danach Verabschiedungen und Beförderungen von Generälen, Gespräche über die künftige Kommission 'Gemeinsame Sicherheit und Zukunft der Bundeswehr', dann Treffen mit führenden Vertretern wichtiger Unternehmen, mit denen ich eine Zusammenarbeit anstrebe." Ein wichtiger Mann, der Wichtiges tut.

Lafontaines Buch heißt: "Das Herz schlägt links", Scharpings Verlag titelt: "Wir dürfen nicht wegsehen". In der Konstruktion und im Wortlaut dieser Buchtitel scheint der Unterschied zwischen demokratischer Geschäftigkeit einerseits und totalitärem Wahn andererseits bereits auf. Lafontaine argumentiert, zitiert, rechnet auf, rechnet ab, bezieht Position im "fundamentalen Richtungsstreit in der SPD". Für Scharping hingegen beginnt jenseits der Zustimmung das Feld des Pathologischen.

Nicht ganz bei Trost sei z.B. Gregor Gysi, der "Belgrad besucht und dem Kriegsverbrecher die Hand geschüttelt" hat: "Wahrscheinlich meint er, jeder Diktator habe selbst das Recht zu bestimmen, wer überleben dürfe und wer umgebracht werde." Zweifel hegt Scharping auch an der Zurechnungsfähigkeit John Deutchs: "Der ehemalige CIA-Chef behauptete" auf einer Konferenz Mitte März in Washington "allen Ernstes, wenn die Europäer eigene Fähigkeiten zum strategischen Lufttransport und zur raumgestützten Aufklärung entwickelten, gefährde das den Zusammenhalt der Nato."

Die Pathologisierung abweichender Meinungen oder Interessen hat mit Joseph Fischer und Rudolf Scharping eine neue Qualität bekommen. Beide wurden zu den beliebtesten Politikern Deutschlands, in dem Augenblick, wo sie aus den "kleinkarierten Auseinandersetzungen der Parteipolitik" (Scharping) in die aktive Verantwortung für das Ganze befördert wurden, und beide schöpfen ihre Credibility aus dem aggressiven Exhibitionismus ihrer Befindlichkeiten.

Während Fischer den Zuwachs an Vertrauen vorrangig dazu nutzt, der eigenen Partei die Sachzwänge nationaler Interessen in moralische Imperative zu übersetzen, verlangt Scharping die totale Zustimmung. Vielleicht ist das biografisch begründet: Scharping hat als Parteivorsitzender und Kanzler-Kandidat die Wucht sozialdemokratischen Genossen-Mobbings kennen gelernt und daraus seine Konsequenzen gezogen.

Der individuelle Reflex auf diese Beschädigungen fügt sich in jene

autoritäre Verbindlichkeit ein, mit denen ihre Propheten die Berliner Republik gerne ausgestattet sähen. Reichte in der Bundesrepublik bisher die Organisierung von Mehrheiten oder der Verweis auf die legale Autorität eines Amtes zur Durchsetzung politischer Entscheidungen, tritt im Charakter des Verteidigungsministers die fanatische Sehnsucht nach völliger Harmonie hervor. Aus diesem Verlangen resultiert auch Scharpings Buch: Als Dokument affektiv grundierter Selbstvergewisserung liest es sich wie ein Angebot, der nationalen Akklamationsgemeinschaft noch nachträglich beizutreten.

Für die Erzeugung von Glaubwürdigkeit wird dem Leser eine Tagebuchintimität vorgegaukelt. Wieder einmal wird die Abteilung Wut & Trauer bemüht. Dauernd ist Scharping - mit Blick auf Slobodan Milosevic, die Kosovo-Flüchtlinge, grüne Pazifisten oder die Medien - "zornig", "ernst, müde, aber irgendwie völlig wach", "elektrisiert", "erschreckt", "aufgewühlt", "wütend, zornig, aufgewühlt und empört", "zornig und verzweifelt", kurz: "es ist zum Haare ausraufen"; "es ist zum Kotzen".

Um zu zeigen, dass die humanitäre Vernunft mit einer Stimme spricht, ruft Scharping unentwegt eine halluzinierte Einheit an, die das Niveau des Buches noch unter die Qualität des üblichen von Politikern gesponnenen Diplomatengarns drücken. Die Bundesregierung entscheidet in Fragen des Krieges immer "völlig einmütig", die "Verteidigungsminister von Frankreich, Polen und Deutschland" haben "keine Meinungsverschiedenheiten über das Kosovo und Jugoslawien", Gespräche mit den Staatsspitzen Mazedoniens und Albaniens: "völlige politische Übereinstimmung"; die Treffen der WEU-Verteidigungsminister verlaufen "ohne Meinungsverschiedenheiten".

Sorgen hat dem Verteidigungsminister während der Kriegswochen bekanntlich die Berichterstattung in den Medien gemacht. Das begann bereits am ersten Kriegstag: "Heller Zorn, als die Fernsehmeldungen kommen, ein Tornado sei abgeschossen. Verdammt, wie kann man sich ausschließlich auf jugoslawische Quellen stützen." Tage später: "Die serbische Desinformation": "Lügen über Lügen, wen soll das eigentlich noch beeindrucken?" 7. April: "Nach dem gestrigen energischen Telefonat mit (der Nato in; R.S.) Brüssel konnte ich die Bilder von Anfang März veröffentlichen und damit belegen, wie die jugoslawische Polizei im Kosovo vorging."

Bilder sagen nämlich mehr als Worte: "Für die Debatte morgen im Bundestag will ich keinen Redetext vorbereiten, sondern frei sein in meinen Äußerungen; werde aber Bilder von den Flüchtlingstrecks und den zerstörten Dörfern mitnehmen." 9. April: "Endlich konnten wir mit Hilfe der Drohnen auch Bilder von zerstörten Dörfern zeigen, auf die wir bisher nur Hinweise hatten." Scharpings Gier nach "Bildern" entspringt der nicht ganz falschen Einschätzung, die Mehrzahl der Kriegs-Skeptiker stünde deshalb abseits, weil sie von den Untaten des Feindes noch nicht recht überzeugt sei. Bereits im Bosnien-Krieg hatten (gefälschte) Fotos von serbischen Konzentrationslagern die Zahl der Befürworter einer bewaffneten westlichen Intervention enorm vergrößert. Ärgerlich findet Scharping, dass auch die Serben diese Technik der Suggestion beherrschen: "Es ist schon erstaunlich, wie Desinformation und die Macht der Bilder zusammenwirken."

Die eindringlichste Mitteilung im Manifest des Zwangs-Charakters aber hat mit dem Kosovo-Krieg gar nichts zu tun. Als am 11. März die Nachricht vom plötzlichen Rücktritt Oskar Lafontaines eintrifft, notiert der Verteidigungsminister: "Scheiße, er kann doch nicht passen, unsere Partei ist doch kein Skat-Club. Der ganze Tag geriet durcheinander."

Rudolf Scharping: Wir dürfen nicht wegsehen. Der Kosovokrieg und Europa. Ullstein, Berlin 1999, 269 S., DM 36