Chaos im Kaukasus

Der russische Premier droht mit dem Marsch russischer Truppen auf die tschetschenische Hauptstadt. Sein Widerpart in Grosny setzt auf den "Heiligen Krieg" gegen Russland und bietet Verhandlungen an.

Überschreitet das russische Militär den Fluss Terek? In der vergangenen Woche ist die Armee bis zu dieser wichtigen Grenzmarke, etwa 30 Kilometer von der tschetschenischen Hauptstadt Grosny entfernt, vorgedrungen. Sie hat damit das nördliche Drittel der Republik unter ihre Kontrolle gebracht.

Das fiel ihnen nicht besonders schwer. Der Norden der Kaukasus-Republik ist kaum bevölkerte Steppe, ideales Terrain für die Panzer und motorisierten Einheiten der russischen Armee. Aber die Anzeichen mehren sich, dass dieser Erfolg den russischen Militärs nicht genügt. Der russische Kommandeur, Generaloberst Wiktor Kasakzew, erklärte am Wochenende, der Vormarsch sollte über den Terek hinaus fortgesetzt werden. Der Zeitpunkt jedoch blieb unklar.

Der russische Präsident Boris Jelzin befindet sich - wie zu Beginn des ersten Tschetschenienkrieges vor rund fünf Jahren - auf Tauchstation. Er liege mit einer Grippe im Krankenhaus, verlautete aus dem Kreml. Premierminister Wladimir Putin, ein Hardliner in dem Konflikt, und die Generäle bestimmen das weitere Vorgehen.

Bereits am Dienstag vergangener Woche kündigte Putin an, Zehntausende vor dem Krieg geflüchtete Tschetschenen in dem von russischen Truppen kontrollierten Teil anzusiedeln. "Wir werden in diesen Gebieten wieder Militärkommandanturen und Organe der Polizei installieren, die Schulen und Krankenhäuser wieder eröffnen", zitierte ihn Le Monde. "Die Leute werden ihre Löhne und ihre Renten erhalten."

Putins Äußerungen wurden zunächst als Anzeichen interpretiert, dass Rußland darauf abzielt, die abtrünnige Kaukasus-Republik zu spalten - den nördlichen Teil unter russische Verwaltung zu stellen und den Rest der belagerten tschetschenischen Regierung und den mit ihr rivalisierenden Warlords zu überlassen.

Ursprünglich hatten russische Politiker erklärt, sie wollten eine "Pufferzone" etablieren, um die Infiltrationsversuche islamistischer Rebellen von Tschetschenien in benachbarte russische Regionen wie beispielsweise Dagestan zu blockieren. Die "Pufferzone" scheint mittlerweile das gesamte nördliche Drittel Tschetscheniens zu umfassen. Und Putin erklärte am Sonntag im russischen Fernsehen, die russischen Truppen würden diese Zone noch ausweiten. Innenminister Igor Sergejew sekundierte: "Sollten uns die echten Tschetschenen in Grosny um Befreiung von den Banditen bitten, werden wir dies tun." Solche Bitten seien bereits eingegangen, ergänzte Putin.

Politisch ist die Kaukasus-Republik isoliert, kein Staat erkennt ihre Unabhängigkeit an. Der tschetschenische Präsident Aslan Maschadow hat Mitte vergangener Woche das Kriegsrecht in dem Land verhängt und islamische Geistliche aufgefordert, den "Heiligen Krieg" gegen Russland auszurufen - eine weitgehend symbolische Geste, da er die tschetschenischen Feldkommandeure, die ihm eine allzu moskaufreundliche Haltung vorwerfen, ohnehin nicht kontrollieren kann.

Maschadows Angebote an Moskau, politische Gespräche zu führen, um einen Krieg zu vermeiden, wurden nicht angenommen. Der Kreml bezeichnete ein Treffen zwischen dem russischen und dem tschetschenischen Präsidenten als "schwer vorstellbar". Mittlerweile scheint Moskau Maschadow jede Legitimität abzusprechen und die Schaffung einer Marionettenregierung vorzubereiten - ein bekannter Trick, der in ähnlicher Form schon 1996, im ersten Tschetschenien-Krieg, fehlgeschlagen war.

Und so verschärfte Maschadow seinen Ton. "Wir werden unser Land schützen, und Russland wird vernichtet, wenn es hereinkommt, um es zu besetzen", erklärte er. Am Sonntag machte er Moskau ein neues Angebot zu Verhandlungen. Die russischen Truppen sollten sich an die Landesgrenzen Tschetscheniens zurückziehen und alle Angriffe einstellen. Dann sollten auf der Basis des 1997 unterzeichneten Friedensabkommens Gespräche aufgenommen werden. Zudem wolle Grosny in Zukunft jede Bildung "illegaler, bewaffneter Banden" in Tschetschenien verhindern.

Ökonomisch hat sich die Situation in Tschetschenien weiter verschlechtert. Die russische Luftwaffe hat die Ölraffinerie von Grosny bombardiert. Nun hat Russland auch die Erdgaslieferungen an die Kaukasus-Republik eingestellt. Im bevorstehenden Winter ist damit auch wirtschaftlich eine Notstandssituation zu erwarten. Und auch die Nachbarrepubliken werden durch den Krieg nicht stabiler. Nach Inguschetien sind bis zum Wochenende nach Angaben von Interfax 142 000 Personen geflüchtet; der inguschetische Präsident Ruslan Auschew habe die Situation als humanitäre Katastrophe bezeichnet.

Unterstützung aus anderen ehemaligen SU-Republiken kann Maschadow kaum erwarten. Am letzten Freitag fand eine eintägige Konferenz in Jalta auf der Krim statt, auf der elf Regierungschefs aus der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) anwesend waren. Sie unterzeichneten ein Abkommen über den gemeinsamen Kampf gegen "Kriminalität und Terrorismus" und billigten damit implizit das russische Vorgehen in Tschetschenien.

Zudem startet Russland einen Werbefeldzug gegenüber den wichtigsten islamischen Staaten. Außenminister Igor Iwanow will nach Angaben von Interfax vom Sonntag Abgesandte u.a. nach Iran, Pakistan und Saudi-Arabien schicken; die sollen den dortigen islamistischen Chefs Noten überreichen, in denen die Aktionen Moskaus gegen die islamistischen Rebellen in Tschetschenien erklärt werden.

Zumindest im Iran könnte Moskau dabei offene Türen einrennen. Einer der Warlords, die von Tschetschenien aus im August und September Dagestan überfielen, ist ein alter antisowjetischer Afghanistan-Kämpfer mit dem nom de guerre Khattab. Und viele Afghanistan-Veteranen von seinem Schlage sind eingeschworene Feinde des im Iran herrschenden schiitischen Fundamentalismus.

Eine internationale Vermittlung in dem kriegerischen Konflikt lehnt Moskau jedenfalls ab. Eine EU-Delegation, die Moskau vergangene Woche besuchte, erklärte sich zwar besorgt über die Entwicklung im Kaukasus. Nach den Worten der finnischen Außenministerin Tarja Halonen achte die EU jedoch die territoriale Integrität Russlands und betrachte Tschetschenien als unabtrennbaren Teil der Russischen Föderation.

Einen weiteren Vermittler besonderen Kalibers hat Maschadow ins Spiel gebracht. Am Donnerstag wurde in Grosny ein Brief an den neuen Nato-Generalsekretär George Robertson veröffentlicht, in dem Maschadow das westliche Militärbündnis um "Vermittlung bei der Regelung der Beziehungen zwischen der Republik Tschetschenien und Russland, im Rahmen des internationalen Rechts und der neuen, von der Nato hergestellten Weltordnung" bat.

Solche Stichworte fallen nicht nur auf unfruchtbaren Boden. In der FAZ hieß es dazu, nachdem eingeräumt wurde, dass Russland "aus völkerrechtlicher Sicht" kaum zu widersprechen sei: "Doch was in Tschetschenien geschieht, ist unter humanitären Gesichtspunkten, wie sie ein Großteil der Staatengemeinschaft inzwischen versteht, nicht länger eine rein innerrussische Angelegenheit."