Kaviar vorm Kino

Gefährliche Orte LXXVI: Friedrichshain ist auf den Fisch gekommen.

Katja ist gerade erst nach Berlin gezogen. Zwanzig Jahre hat sie in Hamburg gelebt. Und sie redet auch so: "Hier zieht es ja wie Hechtsuppe", sagt sie, wenn es kalt ist. In Hamburg zielt jeder Vergleich automatisch auf die nächste Umgebung. Es ist kalt, Katja hat Recht. Und manchmal hat Katja auch Sehnsucht: nach dem Fischmarkt, nach den Marktschreiern, nach den Möwen und nach der Nordsee.

Berlin hat das alles nicht zu bieten. Sollte man meinen. Wenn es nicht den Friedrichshainer Fischtag gebe. Dazu gehen wir raus auf die Frankfurter Allee zum Kino "Kosmos". Alte Männer mit Prinz-Heinrich-Mütze kommen uns entgegen, und bald merken wir: Alle haben sich als Fischer verkleidet. Sie tragen blaue Hemden und um den Hals ein rotes Tuch. Sie versuchen möglichst breit zu sprechen und nicht zu berlinern. Was nicht ganz gelingt.

"Moin", sagt ein Berliner und bietet uns einen völlig verkohlten Räucheraal an. Nee, nee, da gehen wir lieber weiter. Zwischen den Ständen ist eine kleine Bühne aufgebaut. Ein Mann brüllt ins Mikrofon: "Da gibt es Fisch in Tuben, ideal zum Dressieren." Außer ihm lacht keiner. Und damit auch alle merken, dass er einen Witz gemacht hat, lacht er so lange, bis die Leute klatschen.

"An diese Sparwitze werden wir uns gewöhnen müssen", sagt Katja. "Sie sind Teil des Settings." Um nicht aufzufallen, lachen wir mit und gehen zu dem Stand hinüber, in dem es Fisch in Tuben gibt. "Kompetenz in Fisch" steht auf dem Schild. Tatsächlich handelt es sich nicht um Fische, sondern um deren Rogen - um Kaviar also. Genauer gesagt, um Kaviarcreme in verschiedenen Geschmackssorten: Dill, Knoblauch, Meerrettich und Curry. Zwei Frauen bieten Snacks an und ein Mann fragt skeptisch: "Is' da nu Fisch drin oder nich?"

Überall stehen Bottiche rum mit lebenden Karpfen. An der Oberfläche des trüben Wassers schwimmen Blasen und unten im Bottich ein großer Fisch. Wo mag dieser Karpfen wohl herkommen? "Das kann ich Ihnen sagen", sagt der Mann mit der Käpitänsmütze, verschränkt die Arme und lehnt sich zurück: "Aus'm Wasser." Selten so gelacht.

Etwas weiter stehen die Angelfreunde 1866 e.V. Rudi und Hans-Günther haben ihre besten Stücke einbalsamiert und wie Jagdtrophäen auf eine Holztafel geklebt. "1 Meter 70", prahlt Hans-Günther, "und 25 Pfund." Auf meinen Einwand, dass große Fische doch gar nicht schmecken, macht er eine wegwerfende Handbewegung. "Ach was, die muss man nur mit Semmelmehl panieren und filetieren, Salz und Pfeffer druff, braten, fertig, schmecken super, wie Fischstäbchen."

Neben dem großen Hecht ragt noch ein kleiner spitzer Fisch aus einer Holzplatte. "Das ist ein Hornhecht", klärt Hans-Günther uns auf. "Die kann man nur im Sommer fangen, im Winter zigeunern die irgendwo in der Ostsee." Zigeunern? Was meint er denn damit? "Naja", antwortet er, "herumtreiben." Weil sich Zigeuner immer herumtreiben? "Nein, das nicht. Zigeuner sind doch keine Fische." Jetzt will ich es aber genau wissen: "Also können nur Fische zigeunern?" So eine Frage bringt Hans-Günther aus der Fassung und statt einer Antwort bekomme ich eine Informationsbroschüre in die Hand gedrückt. Titel: "Angeln macht glücklich".

Das klingt vielversprechend, bisher ist mein Tag ja nicht so gut gelaufen. Vielleicht ist Angeln die Lösung, denke ich mir. Aber Angeln macht einsam. Das sieht der Deutsche Angel-Verein ganz anders. "Angeln ist eben mehr", heißt es da. "Sie wissen schon." Neue Mitglieder werden geködert, indem man ihnen eine heile Welt vorspielt - mit "neuen Naturerlebnissen" und "neuen Freunden". Und hervorgehoben steht da: "Ja, Angeln ist viel mehr als nur Fische aus dem Wasser zu ziehen." In der taz hieß es neulich: "Warum angeln eigentlich nur Männer?" Katja angelt auch, hin und wieder. "Ein ganz besonderers Erlebnis ist das", sagt sie. "Das ist nur ein anderer Mikrokosmos", sage ich und wir gehen wieder zurück zur Bühne.

Dort haben sich inzwischen eine Menge Leute versammelt. Der Höhepunkt des Tages steht unmittelbar bevor. Die Namensgebung des Friedrichshainer Wappentieres. Es ist ein Fisch - wie sollte es anders sein. "Folgende Vorschläge sind abgegeben worden", ruft der Moderator. "Heiner, Fridolin, Flutschi, Friedrich von Stralau, Strahli, Schuppi, und Kyprianus." Kyprianus? War das nicht dieser linke zypriotische Politiker? Wer weiß das schon? Ist auch egal. Den hat sowieso keiner gewählt.

Der Moderator schöpft wieder aus dem Vollen: "Wir haben 60 000 Wahlberechtigte in Friedrichshain und davon haben 142 gewählt. Das ist eine Beteiligung von Null-komma-ach-was-weiß-ich-wieviel-Promille. Aber nicht nur aus unserem Bezirk haben welche gewählt, wie ich hier sehe, sogar unsere ausländischen Gäste aus Hellersdorf." Diesmal lacht niemand. Offenbar kommen alle aus Hellersdorf. Aber keiner traut sich, es zuzugeben.

Als der Bezirksbürgermeister Helios Mendiburu (SPD) das Ergebnis bekannt gibt, gehen einige bereits weiter. "Mit überwältigender Mehrheit hat Friedrich von Stralau gewonnen. Auf diesen Namen entfielen 30 Stimmen, auf Fridolin 21 und auf Flutschi 14." "Wo ist Heiderose Schulz?" ruft der Moderator. "Wer ist Heiderose Schulz?" schallt es zurück. Heiderose Schulz ist die Namensgeberin und hat einen Fisch gewonnen, aber sie macht es richtig und taucht nicht auf.

Später verrät Helios seine Ansicht zu der ganzen Veranstaltung: "Ich hätt's nicht gemacht. Aber wenn's den Leuten gefällt." Er hat schon ein paar Bier getrunken und schwankt etwas. "Ein Platz für den Fisch", fordert er. Damit meint er das Wappen des Großbezirks Kreuzberg-Friedrichshain. Da wird der Fisch nämlich künftig fehlen. "Wir mussten einen Kompromiss eingehen", sagt Mendiburu. "Die Oberbaumbrücke, die uns verbindet, bleibt."

Katja beginnt sich zu langweilen. Was interessiert sie das Wappen eines Bezirks, den es noch gar nicht gibt. Und außerdem: "In Hamburg ist das anders, größer, authentischer." Wie gesagt, sie ist gerade erst nach Berlin gezogen. Da ist es schwer, mit der tristen Berliner Parallelwelt klarzukommen.

Ein Mädchen mit ganz langen dunklen Dread-Locks kommt auf mich zu und drückt mir einen Zettel in die Hand. "Stoppt die Hinrichtung von Mumia Abu-Jamal!" Auf dem Zettel ist ein Foto. Der Mann sieht ihr sehr ähnlich. "Ist das dein Vater?" frage ich. Ihre Stimme wird ganz hoch und empört stampft sie auf. "Du kennst Mumia Abu-Jamal nicht?" Ich hätte nicht mit dem Kopf schütteln sollen, denn jetzt erzählt sie mir die ganze lange Geschichte, und dass ich dem Gouverneur von Pennsylvania unbedingt schreiben soll. Ich würde lieber ihr schreiben. Das sage ich auch, aber das macht sie nur noch wütender. Leider kann ich ihr Gesicht nicht sehen, unter den Haaren schimmert nur das Piercing durch.

Auf dem Weg zurück kommen wir noch einmal bei Rudi und Hans-Günther vorbei. Rudi macht gerade ein paar Fotos von Hans-Günther. Seine Brille sitzt schief auf dem Kopf. Er streicht sich die Haare zurecht und grinst. Als Hans-Günther uns sieht, fängt er wieder von seinem Karpfen an. "Einssiebzig und fünfundzwanzig Pfund." Ja,ja, wir wissen schon. "Hey, ihr wart doch schon da. Warum erzähl ich euch das überhaupt?" Das weiß ich auch nicht.