IWF-Chef tritt für Armutsbekämpfung ein

Systemische Bedrohung

Die Trikont-Soli-Bewegung hat IWF-Direktor Michel Camdessus bekehrt: Dieser möchte, dass die Industrieländer ihre Entwicklungshilfe-Zahlungen beträchtlich aufstocken. Bei einem Vortrag, den er kürzlich bei der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung hielt, forderte er, dass seine Organisation den Schwerpunkt ihrer Tätigkeit "auf die Armut und die Sozialpolitik" verlagert.

"Die Industrieländer könnten ihre Volkswirtschaften für die Exporte anderer Länder öffnen", meint Camdessus, "nicht nur für Rohstoffe, sondern für alle Exporte, damit Anreize für eine neue, stärker diversifizierte Exportproduktion geschaffen werden. (...) Die Geldgeber könnten sich zu einer beträchtlichen Verbesserung der Qualität und Quantität der öffentlichen Entwicklungshilfe verpflichten."

Diese Forderungen dürften diejenigen, die den IWF nicht ohne Berechtigung immer als Handlanger der Industrieländer zur Durchsetzung ihrer Interessen gegenüber den Entwicklungsländern gesehen haben, doch einigermaßen überraschen. Der IWF war zwar schon immer bemüht, die Reformen, die er durchsetzt, als dem Wohle der Armen dienend darzustellen. Wenn Camdessus jedoch fordert, die finanziellen Hilfen zu verstärken und die Binnenmärkte der reichen Länder für Exporte zu öffnen, so ist dies etwas gänzlich Anderes; denn jetzt will der IWF-Chef den Industrieländern in die Tasche greifen.

Er sieht sich daher auch genötigt zu beteuern: "Bei der Betonung dieser Frage in den durch den IWF unterstützten Programmen sowie in seiner Überwachungsarbeit handelt es sich im Gegensatz zu vielen Kommentaren aus der jüngsten Vergangenheit um eine Initiative, die unserem Kernmandat und unserer Grunderfahrung weiterhin sehr nahe steht."

Was bewegt Camdessus zu dieser Kehrtwende? Er scheint davon auszugehen, dass die Weltwirtschaft in Zukunft häufiger von Krisen heimgesucht wird: "Diese beiden Wirtschaftskrisen könnten als die zwei ersten des neuen Jahrtausends gelten. Ich spreche von der mexikanischen Krise der Jahre 1994 und 1995 und von der so genannten 'Asien-Krise', aus der die Welt gerade erst auftaucht." Damit steht er in deutlichem Widerspruch zum Mainstream der Nationalökonomie, welcher diese Krisen für einen Unfall hält, dessen Wiederholung man durch einige Korrekturen an den Spielregeln des internationalen Kapitalverkehrs verhindern könne.

Doch "die Armut in der Welt ist für viele, und dazu gehöre auch ich, die wichtigere und tiefere Krise", warnt Camdessus. "Die systemischen Risiken, die durch die weltweit verbreitete Armut verursacht werden, brauchen nicht weiter ausgeführt zu werden, sie erfordern jedoch eindeutig dringende und entschlossene Maßnahmen."

Worum handelt es sich bei diesen "systemischen Risiken", die der IWF-Chef nicht weiter ausführen möchte? Die Ärmsten sind in der Dritten Welt heute größtenteils diejenigen, die aus der Subsistenz in den Kapitalismus katapultiert wurden und jetzt keine Arbeit finden. Welche "globale systemische Bedrohung" können Menschen darstellen, die schon aus der Kapitalverwertung herausgefallen sind?

Die Formulierung, es könne "vorkommen, dass die Armut makroökonomische Auswirkungen hat, da sie den sozialen Zusammenhalt unterwandert", ist schon etwas klarer. Es scheint nicht die Armut zu sein, die Camdessus nicht schlafen lässt, sondern vielmehr die Armen: Der scheidende IWF-Direktor befürchtet die Revolten derer, die in der Krise des Kapitalismus aus der Verwertung herausfallen.