Tückischer Dreiteiler

Grundrechte, Europol und dichte Grenzen: Bei ihrem Gipfel im finnischen Tampere beschlossen die EU-Regierungschefs mehr Rechte für Europa-Bürger - und weniger für alle anderen.

Kaum hatte der EU-Gipfel im finnischen Tampere am Freitag vergangener Woche begonnen, gab es auch schon den ersten Eklat: Der britische Premierminister Tony Blair stritt sich mit Frankreichs Premier Lionel Jospin über Frankreichs Weigerung, trotz eines gültigen EU-Beschlusses britisches Rindfleisch nach Frankreich zu importieren.

Auch in einem anderen Bereich der "gemeinsamen Innenpolitik" durfte der britische Premier den bad guy spielen: Er verweigerte sich der vom deutschen Kanzler Gerhard Schröder und seinem Außenminister Joseph Fischer vorgetragenen Forderung nach einer "gerechteren europäischen Flüchtlingsverteilung" und beharrte darauf, dass Fragen der Einwanderung und des Asyls weiterhin Fragen des nationalen Interesses seien und der Obhut der einzelnen Staaten unterliegen.

Seit dem Inkrafttreten des Amsterdamer EU-Vertrages am 1. Mai 1999 sind die gemeinsame Rechts-, Innen- und damit die Einwanderungs- und Asylpolitik - samt dem Schengener Vertrag zum Bau der "Festung Europa" - zur Gemeinschaftsaufgabe der Union geworden. Vorgesehen sind insbesondere gemeinsame Mindestnormen für die Aufnahme und Anerkennung von Asylbewerbern sowie Maßnahmen für einen vorübergehenden Schutz von Flüchtlingen. Und natürlich nicht zuletzt eine Institutionalisierung der Abschottung, die über gemeinsame Kriterien bei der Abschiebung erreicht werden soll. Der Amsterdamer Vertrag legt die EU als einen "Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts" fest. Dieses möglichst schnell zu erreichen, hat man sich in Tampere zum Ziel gesetzt. Entsprechend wird "Europa auf dem Weg in das neue Jahrtausend", wie das Motto vergangene Woche vorgab, aussehen.

Herausgekommen ist eine Dreiteilung: längerfristig bessere Rechte für EU-Bürger, kurzfristig eine stärkere Abschottung gegen neue Zuwanderung und schlechtere Bedingungen für Flüchtlinge in Europa. Natürlich soll zu diesem Zweck zuerst der Sicherheitsstaat auf europäischer Ebene ausgebaut werden. Gerichtsurteile und Vollstreckungsbefehle wollen die Regierenden der Mitgliedsländer gegenseitig schneller anerkennen.

Auch der europäischen Polizeibehörde Europol werden weitere Befugnisse übertragen. Unter dem Namen "Eurojust" wird eine Koordinierungsstelle der Staatsanwaltschaften eingerichtet, die als direkte Vorstufe zur Einrichtung eines Europäischen Generalstaatsanwalts betrachtet wird. Die Staats- und Regierungschefs wollen nun innerhalb von fünf Jahren ein "gemeinsames europäisches Asylsystem" schaffen, die "illegale Einwanderung" soll "an ihrer Wurzel" bekämpft werden, und zu diesem Zweck sollen gemeinsame Ermittlungsgruppen der EU-Staaten gegen "Menschenhändler" gegründet werden. Darin wird Europol eingebunden.

EU-Bürger dagegen sollen künftig mit Hilfe einer europäischen Grundrechts-Charta bessere und durchgreifende Rechte genießen können. Das Etappenziel: Unter französischer Ratspräsidentschaft wollen die Regierungen diese Charta bis Ende 2000 verabschieden. Gegen Pläne aus Frankreich, die bürgerlichen Rechte mit Substanz zu füllen und besonders soziale Rechte wie das auf angemessen bezahlte Arbeit oder eine soziale Mindestsicherung in die Charta aufzunehmen, wehrt sich aber die deutsche Bundesregierung. Sie befürchtet die daraus erwachsenden Verpflichtungen der Staaten auf Arbeitsbeschaffungs- und ausgeweitete Sozialprogramme. Ihre Position lässt sie im Konvent, der mit der Ausarbeitung der Grundrechte beauftragt wird, deshalb konsequenterweise vom ehemaligen Bundespräsidenten Roman Herzog vertreten.

Der hat immerhin als ehemaliger Präsident des deutschen Verfassungsgerichts und als Schüler des konservativen Verfassungsrechtlers Theodor Maunz Erfahrung darin, eine Überforderung oder Einschränkung der Souveränität des Staates durch Sozialleistungen abzuwehren.

Herzog eignet sich für diese Aufgabe hervorragend: Die 62 "Meilensteine von Tampere auf dem Weg zu einer Union der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts" - so der Titel des offiziellen Kommuniqués - reden viel von Menschenrechten. Freiheit solle nicht nur die Freiheit der Marktbürger und des Kapitals sein, sondern außer EU-Bürgern auch Drittstaatsangehörigen und Flüchtlingen zukommen. Das klingt gut, faktisch bedeutet jedoch jede konkrete Maßnahme, die in Tampere beschlossen wurde, das genaue Gegenteil: Die Menschenrechte sind gefälligst so anzuwenden, dass sie den Interessen der EU-Staaten untergeordnet werden. Zwar sollen künftig Drittstaatsangehörige, die "ihren Wohnsitz rechtmäßig in der Union haben", besser integriert werden, zugleich aber werden hier keine konkreten Vorschläge oder gar Vorschriften vereinbart.

Konkreter wird es bei der Abschottung Europas gegen Einwanderung. Die "Partnerschaft mit Herkunftsländern" soll dafür sorgen, dass keine neuen Massenfluchten entstehen. Das "Gemeinsame Europäische Asylsystem" soll sich "auf die uneingeschränkte und allumfassende Anwendung der Genfer Flüchtlingskonvention stützen", konkret wird aber festgelegt, dass die Rückübernahme-Abkommen weiter ausgebaut werden. Diese Vereinbarungen sorgen bereits heute dafür, dass häufig ein Flüchtling über verschiedene EU-Staaten zurückgeschoben wird, bis er in einem Land angekommen ist, in dem die Genfer Konvention keine Geltung besitzt.

Pro Asyl zu den Entscheidungen von Tampere: "Das Konzept Fluchtverhinderung,

Regionalisierung der Flüchtlingsaufnahme, Abschottung der EU und die Suche nach neuen Abschiebewegen ist kennzeichnend für die konkreten Handlungsvorschläge." Wenn Flüchtlinge durch Drittstaatenregelung und Abschottung an den Grenzen der EU "kein Asylland mehr finden können, dann bleibt selbst das emphatische Bekenntnis zur Genfer Flüchtlingskonvention folgenlos".

Faktisch wurde in Tampere die Genfer Konvention weiter ausgehöhlt: Flüchtlinge und Asylbewerber, die Hauptzuwanderer nach Europa, gelten definitiv nicht mehr als Migranten. Für Flüchtlinge gibt es nur noch einen temporären Schutz. Fallen die Fluchtgründe weg, kann abgeschoben werden. Ein vorübergehender Schutz bedeutet für Flüchtlinge einen unsicheren Aufenthaltsstatus, eingeschränkte Sozialleistungen, keinen Zugang zum Arbeitsmarkt - außer illegal natürlich, zu Niedrigstlöhnen in Bereichen, in denen kein Europäer bereit ist zu arbeiten.

Die Migrationspolitik für die bereits länger in Europa Ansässigen soll dagegen die vollen Rechte eines Europa-Bürgers sichern. Die EU zementiert damit entgegen ihren Verlautbarungen praktisch-politisch die katastrophale Unterscheidung zwischen Menschen- und Bürgerrechten, die kennzeichnend für die Entwicklung der europäischen Nationalstaaten ist. Schließlich wird dieser Prozess dazu führen, dass die EU mit gutem Gewissen selbst elementare Menschenrechte für Flüchtlinge nicht garantieren muss - sie bleiben ja nicht hier, können also keine "Europäer" werden.